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Waffenlieferungen an die Ukraine
Brüssel fragt sich: Lässt die Hilfe für Kiew jetzt nach?

Beobachter sprechen von «Teilzeitsolidarität»: Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki (r.) und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in Warschau.
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Es ist wahrscheinlich ein Zeichen, wie gross die Nervosität ist, wenn ein einziger Satz veritables Entsetzen auslösen kann. Das Zitat, das am Donnerstag in Brüssel einschlug wie ein Blitz aus sonnenhellem Himmel, stammte vom polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki. In einem TV-Interview hatte dieser gesagt, was der EU und ihren Mitgliedsländern einen Schock versetze: «Wir liefern schon keine Rüstungsgüter mehr an die Ukraine», so Morawiecki, «sondern rüsten uns selbst mit den modernsten Waffen aus.»

Viel Interpretationsspielraum schien dieser Satz nicht zuzulassen. Polen lässt die Ukraine fallen und gibt dem angegriffenen Land keine Waffen mehr – so wurde Morawiecki in Brüssel verstanden. Das wäre, sollte es sich tatsächlich als die neue polnische Ukraine-Politik herausstellen, zum einen eine Wende um 180 Grad. Denn bisher gehörte die rechtspopulistische Regierung in Warschau zu den entschlossensten und verlässlichsten Unterstützern, die die Ukraine in der EU hatte. Polen war in Brüssel stets sehr weit vorne mit dabei, wenn es darum ging, mehr Geld und mehr Waffen für Kiew sowie mehr Sanktionen gegen Moskau zu fordern – oder zunächst zögerlichere Staaten wie Deutschland zu kritisieren und anzutreiben.

Elf Sanktionspakete, Hilfe für zig Milliarden Euro

Zum anderen würde durch einen derartigen Kurswechsel der Polen eine Angst Wirklichkeit, die die Europäer seit längerem quält: das Ende der Einigkeit. Mit der grossen – manche Diplomaten sagen überraschenden – Geschlossenheit, mit der die EU auf den russischen Überfall reagiert hat, wäre es dann vorbei. Diese hat es der Union ermöglicht, in den vergangenen eineinhalb Jahren elf Sanktionspakete gegen Russland zu verabschieden und zig Milliarden Euro dafür bereitzustellen, um den ukrainischen Haushalt zu stützen, Waffen- und Munitionslieferungen zu bezahlen und ukrainische Soldaten auszubilden.

Zwar hat sich die ungarische Regierung in all diesen Monaten immer wieder quergestellt. Doch dieser Widerstand hatte eher das Ziel, den Beitrag Ungarns zur Unterstützung der Ukraine möglichst kostengünstig zu halten. Am Ende stimmte Budapest für alle europäischen Militär- und Finanzhilfen.

Genau das, was Wladimir Putin sich wünscht

Das, was Morawiecki gesagt hatte, klang dagegen so, als kündige er generell die Solidarität Polens mit Kiew auf. Der Eindruck, der dadurch Moskau gegenüber erweckt würde, dass nämlich Europa sich über die Hilfe für die Ukraine zerstreite, sei verheerend, sagt ein EU-Mitarbeiter. Eine gespaltene EU sei genau das, was der russische Präsident Wladimir Putin sich wünsche.

Polnische Regierungsvertreter versuchten nach dem Interview ihres Premierministers, die Sorge vor einem grundsätzlichen Kurswechsel zu dämpfen. Morawiecki habe keinesfalls das Ende aller polnischen Waffenlieferungen an die Ukraine angekündigt, schrieb der Botschafter Polens in den USA, Marek Magierowski, bei X (vormals Twitter). Er habe nur darauf hingewiesen, dass Polen im Moment Waffen für sich selbst kaufe, weil «wir unser eigenes Militär in den letzten 17 Monaten praktisch ausgeweidet haben, um der Ukraine zu helfen».

Polens Aussenminister Zbigniew Rau bekräftigte in einem Gastbeitrag für die Internetpublikation «Politico», die in Brüsseler Diplomatenkreisen mit religiöser Inbrunst gelesen wird, dass Warschau selbstverständlich weiter fest an der Seite der Ukraine stehe.

«Selenski soll die Polen nie wieder beleidigen»

Dass diese vermeintlichen Klarstellungen reichen, um die Zweifel an der Zuverlässigkeit Polens auszuräumen, ist allerdings alles andere als sicher. Denn Rau warf in dem Artikel, in dem er Warschaus umfassende Hilfe für die Ukraine hervorhob, dem Nachbarland auch vor, Polens Bauern durch den Export von billigem Getreide zu schaden. In Wahrheit, so deutete der Minister an, sei es der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, der es an Solidarität mit den hilfsbereiten Nachbarn mangeln lasse, nicht die polnische Regierung.

Morawiecki selbst legte am Freitag nach: Selenski solle die Polen nie wieder beleidigen, wie er es vor den Vereinten Nationen getan habe, sagte er. Der ukrainische Präsident hatte Polen dort «politisches Theater» vorgeworfen in Bezug auf die Getreideexporte.

Diese Vermischung von zwei Themen, die in der Praxis wenig miteinander zu tun haben – Waffenlieferungen an die Ukraine und Getreideimporte aus der Ukraine –, dürfte in Brüssel den Verdacht eher bestärken, dass die Solidarität der polnischen Regierung mit Kiew genau an dem Punkt endet, an dem diese Solidarität dieser Regierung innenpolitisch Probleme bereitet.

Eigentlich geht es um die Getreidepreise

Das ist beim Getreide der Fall: Das ukrainische Importgetreide, das ursprünglich nur durch Polen transportiert werden sollte, dann dort aber in grosser Menge verkauft wurde, hat die Preise für die polnischen Bauern verdorben. Auf deren Stimmen aber ist die polnische Regierungspartei PIS bei der bevorstehenden Wahl angewiesen.

Deshalb hat Warschau die Grenze für ukrainische Agrargüter, die nicht garantiert für ein Drittland vorgesehen sind, kurzerhand geschlossen. Das war ein klarer Verstoss gegen die EU-Handelsregeln, auf den wiederum Kiew mit einer Klage vor der Welthandelsorganisation antworten wollte. Der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir bezeichnete Warschaus Verhalten diese Woche spitz als «Teilzeitsolidarität» – ein Begriff, der in Brüssel auch bei Diplomaten anderer Länder auf Zustimmung traf.

In Brüssel gibt es die Hoffnung, dass tatsächlich nur der polnische Wahlkampf der Grund für Morawieckis Äusserung war und Warschau nach diesem – wie die «Financial Times» es am Freitag nannte – «kindischen Wutanfall» wieder auf den alten Kurs einschwenkt. Die Sorge aber ist eine andere: dass Europas Einigkeit schwächer wird und die polnisch-ukrainische Episode zeigt, wo die Bruchstellen sind.