WädenswilPorträtierte Frauen erzählen ihre Geschichten
In der Stadtbibliothek wurde eine aussergewöhnliche Lesung geboten. Martina Clavadetscher gibt den Frauen aus berühmten Gemälden eine Stimme.

War es die Anwesenheit einer Trägerin des Schweizer Buchpreises? War es das Thema des Buches «Vor aller Augen»? War es der fast frühlingshaft milde Abend? Wie auch immer: Der Veranstaltungsraum in der Stadtbibliothek war bis auf den letzten Platz besetzt, als Hedi Stillhard von der Lesegesellschaft Wädenswil die Autorin Martina Clavadetscher und Daniela Haag, die Moderatorin des Abends, begrüsste.
Martina Clavadetscher bot, unterstützt durch die kluge Moderation von Daniela Haag, nicht weniger als eine Schule des Sehens. Im Buch «Vor aller Augen» kommen 19 Frauen zu Wort, die einst von Berühmtheiten wie Leonardo da Vinci, Egon Schiele oder Vincent von Gogh gemalt wurden. 19 Frauen, deren Körper, deren Blick und Gesichtsausdruck gleichsam zum Weltkulturerbe gehören, ohne dass jemand auch nur ihren Namen gekannt hätte.
Martina Clavadetscher nennt sie nun endlich beim Namen und gibt ihnen eine Stimme. Sie hat Wissen über sie zusammengetragen und lässt sie zum Publikum reden. Dieses sah das Portrait an der Wand und erfuhr, wie die meist jungen Frauen in ihrer Zeit lebten, wie es zum Portrait kam und in welcher Beziehung die Modelle zu ihren Malern standen.
Andere Sichtweise
Und während die Autorin Walburga Neuzil, gezeichnet von Egon Schiele, Margherita Luti, gemalt von Raffael, und Mélie, portraitiert von Eugene Delacroix, ihre Stimme lieh, wandelte sich der Blick des Publikums auf die Bilder. Ein zuvor kaum beachteter Haarschmuck, ein Brusttuch, eine Geste wurden unvermittelt zum Schlüssel, um das Bild zu verstehen. Das war die zentrale Erfahrung an diesem Abend: Wissende sehen anders und Anderes.
Im Gespräch legte Martina Clavadetscher Wert darauf, dass sie bei ihren Recherchen fast nie auf Schicksale von ausgebeuteten und erniedrigten Frauen stiess, sondern auf selbstbewusste, lebenskluge, die den Malern auf «Augenhöhe» begegneten.
Fehler gefunden?Jetzt melden.