Politische Rechte«Hat meine Stimme keinen Wert?» – Sie kämpft dafür, dass sie trotz ihrer Behinderung abstimmen darf
Die Schweiz verwehrt Menschen wie Lucrezia Fopp, die eine Beistandschaft haben, die politischen Rechte. Bald entscheidet das Parlament, ob sich das ändern soll.

- Ein politischer Vorstoss fordert das Stimm- und Wahlrecht für Menschen mit Beeinträchtigung.
- Rund 16’000 Schweizerinnen und Schweizer erhalten kein Stimmcouvert.
- Die Kantone Genf und Appenzell Innerrhoden gewähren das kantonale Wahlrecht.
- Zwischen den Kantonen bestehen massive Unterschiede bei der Vergabe umfassender Beistandschaften.
In der betreuten Wohngruppe Zwyssig stapeln sich Kartonschachteln, ein Team von Elektrikern verlegt gerade Kabel. Die dreizehn Personen mit Beeinträchtigung, die hier leben, sind vor kurzem umgezogen. Eine von ihnen ist Lucrezia Fopp.
Sie lässt sich in eine braune Couch sinken und sagt: «Ich interessiere mich sehr für Politik. Darum schaue ich fast jeden Tag die ‹Tagesschau› und lese Zeitung. Trotzdem darf ich nicht wählen.» Die 76-Jährige senkt ihren Blick: «Ich verstehe nicht, warum alle mitreden dürfen ausser mir. Hat meine Stimme keinen Wert?»
Artikel 136 der Bundesverfassung hält fest, dass Menschen mit «Geisteskrankheit oder Geistesschwäche» keine politischen Rechte ausüben dürfen. Insgesamt erhalten deswegen rund 16’000 volljährige Schweizerinnen und Schweizer kein Stimmcouvert. Lucrezia Fopp gehört dazu, weil sie wegen Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft steht.
Eine umfassende Beistandschaft wird angeordnet, wenn eine Person in allen Lebensbereichen auf Unterstützung angewiesen ist. Zusätzlich urteilsunfähig ist jemand dann, wenn er die Tragweite des eigenen Handelns nicht begreift. Daneben werden auch Menschen, die durch eine vorsorgebeauftragte Person vertreten werden, vom politischen Prozess ausgeschlossen.
Vorstoss will Mitspracherecht auf nationaler Ebene
In Bundesbern schauen viele Politikerinnen und Politiker – vor allem von Mitte-links, kritisch auf den Verfassungsartikel. Der Berner EVP-Nationalrat Marc Jost sagt: «Ein pauschaler Ausschluss einer bestimmten Bevölkerungsgruppe ist diskriminierend.» Jost hat deshalb im letzten Herbst einen Vorstoss eingereicht, der den Passus aus der Verfassung streichen und auch allen Menschen mit Behinderungen das Stimm- und Wahlrecht zugestehen will.
Die grüne Nationalrätin Delphine Klopfenstein unterstützt das Vorhaben. Sie argumentiert: «Die derzeitige Bestimmung beruht auf der veralteten Annahme, dass sich Menschen mit geistiger Behinderung keine politische Meinung bilden können. Eine Anpassung würde unsere Demokratie stärken.»
Auch der Bundesrat ist dafür. In einem Bericht schreibt er, dass die aktuelle Regelung diskriminierend sei, zudem bemängelte er die veraltete Wortwahl im Verfassungsartikel. Die Schweiz erntete deswegen auch international Kritik. Denn der Artikel steht im Widerspruch mit der UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz vor mehr als zehn Jahren ratifiziert hat. Der zuständige Ausschuss der UNO hat die Schweiz deshalb gerügt.

Anfang Mai wird die Forderung während der Sondersession nun erstmals im Parlament besprochen. In der zuständigen Kommission bekam sie nur mit dem Stichentscheid der Präsidentin eine hauchdünne Mehrheit.
«Regelung birgt Missbrauchspotenzial»
Viele Bürgerliche halten die Ausweitung der politischen Rechte für unangebracht. Die SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann meint: «Personen, die eine umfassende Beistandschaft haben, sind nicht in der Lage, politische Entscheide zu fällen. Deswegen ist ihr Ausschluss von den politischen Rechten auch nicht diskriminierend.» Zudem seien es nicht die Betroffenen selbst, die sich für das Stimm- und Wahlrecht einsetzten, sondern Dritte, die sich als ihre Anwälte aufspielten.
Ähnliche Voten kommen aus den Reihen der FDP. Nationalrat Christian Wasserfallen sagt: «Dass Personen, die nicht mündig und handlungsfähig sind und dadurch keine Verträge unterzeichnen dürfen, in ein politisches Amt gewählt werden können, ist nicht vertretbar. Zudem birgt die Verfassungsänderung grosses Missbrauchspotenzial. Es besteht die Gefahr, dass Beistände oder andere nahestehende Personen für die Betroffenen entscheiden.»
Röstigraben bei den umfassenden Beistandschaften
Vonseiten der Befürworter werden immer wieder die kantonalen Unterschiede bei Entscheiden über umfassende Beistandschaften betont. Tatsächlich zeigen die Zahlen der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz erhebliche Differenzen. So standen im Jahr 2023 in der Waadt 3383 Personen unter umfassender Beistandschaft, während es im Kanton Schwyz nur gerade 3 Personen waren. Gemessen an der Einwohnerzahl hatten damit in der Waadt 229-mal mehr Personen eine umfassende Beistandschaft als in Schwyz.
Yvo Biderbost, Leiter des Rechtsdienstes der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde der Stadt Zürich, sagt: «In der Deutschschweiz werden heute kaum noch umfassende Beistandschaften ausgesprochen.» In der Stadt Zürich sei es in den letzten Jahren maximal eine pro Jahr gewesen. Unter anderem weil die Praxis in anderen Kantonen stark abweicht, hält es Biderbost für unsinnig, die politischen Rechte an Erwachsenenschutzmassnahmen zu koppeln.
Genf und Appenzell Innerrhoden als Vorreiter
Unterschiede gibt es auch beim Stimmrecht. So haben Genf wie auch Appenzell Innerrhoden Menschen mit Behinderung den Gang zur Urne bereits erlaubt. Die Genfer Nationalrätin Delphine Klopfenstein sagt: «In Genf haben seither ungefähr fünfzehn Prozent der betroffenen Personen die nötigen Schritte unternommen, um wählen zu können.» Für die Westschweizer Politikerin zeigt dies, dass Menschen, die sich für urteilsunfähig halten, nicht wählen gehen – auch wenn sie das Stimmrecht hätten. Die sogenannte «politische Teilhabe für alle» wird derzeit auch in Zürich, Solothurn, Luzern und Zug diskutiert.
Der Druck aus den Kantonen könnte der nationalen Vorlage Schwung verleihen. Sie könnte in der grossen Kammer mit knapper Mehrheit angenommen werden. Für Lucrezia Fopp wäre dies ein erster kleiner Schritt in Richtung Stimm- und Wahlrecht. «Wenn ich wählen dürfte, würde ich meine Stimme Islam Alijaj geben. Er setzt sich für Minderheiten und Menschen mit Beeinträchtigungen ein», sagt sie. Der SP-Nationalrat ist selbst von Cerebralparese betroffen.
Fopp will sich weiterhin für das Stimm- und Wahlrecht einsetzen. Dafür geht sie an Demos und steht auch immer wieder auf der Bühne, als Nächstes am Europäischen Protesttag für Menschen mit Behinderung. Bis dahin muss sie allerdings ihr weisses Notizbuch, welches beim Umzug verloren ging, finden – denn darin hat sie ihre Rede notiert.
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