Mehr Flüchtlinge auf Mittelmeer-RouteVor Sizilien spielt sich ein Drama ab
Über 500 Menschen sind allein in diesem Jahr auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer gestorben. Italiens Premier setzt nun auf Kooperation mit Libyen
Nello Musumeci steht nicht im Verdacht, privaten Seenotrettern sehr nahe zu stehen. Aber was der konservative Regionspräsident Siziliens Anfang der Woche in den sozialen Medien platzierte, könnte passagenweise von NGOs stammen: «Das Drama der Flüchtlinge im Mittelmeer lässt sich mit gutem Willen allein nicht lösen. Alle wissen, dass in den nächsten Wochen weiter Unschuldige sterben werden (fast immer Frauen und Kinder) auf ihrer verzweifelten Fahrt zu Siziliens Küsten», so Musumeci. Keiner rühre einen Finger, nicht in Rom, nicht in Brüssel. « Sie haben es Sizilien und Lampedusa zuvorderst überlassen, mit dieser endlosen Tragödie umzugehen.»
Migranten aus 21 Booten waren in 24 Stunden am Wochenende auf Lampedusa angelandet, auf oder mithilfe von Küstenwachbooten. 2200 Menschen, Kranke, Schwangere, Säuglinge und Kinder darunter, stiegen an der Mole des Inselhafens an Land. Stundenlang mussten sie an Kais lagern, Hunderte verbrachten die Nacht dort. Es waren einfach zu viele in zu kurzer Zeit und dazu unter Corona-Bedingungen.
Das Aufnahmezentrum der Insel war mit 1000 Menschen schon vierfach überbelegt; nach und nach werden die Menschen auf die Hauptinsel Sizilien ausgeschifft. Wegen hohen Seegangs stockte das aber am Mittwoch, 1600 Menschen warteten da noch auf der Insel.
Die Zeichen sind allen klar, die sommerliche Hauptzeit der Überfahrten von Nordafrika hat begonnen. Seit Monaten führt die meistbefahrene Fluchtroute wieder über das zentrale Mittelmeer, nicht mehr wie zuletzt über die westlichen und östlichen Routen nach Spanien und Griechenland. Etwa 13’000 Bootsflüchtlinge zählt Italien dieses Jahr bisher. Weit weg von früheren Rekordzahlen, trotzdem dreimal so viele wie 2020 zur selben Zeit. Mehr als dreimal so hoch ist auch die Zahl der Toten und Vermissten im zentralen Mittelmeer, 511 offiziell, und nicht alle werden bemerkt, die in den Fluten verschwinden.
Selbst die Mittelklasse steigt in Boote
Den Schleppern sind andere, viel kürzere Routen über die Strasse von Gibraltar und von der Türkei zu den griechischen Inseln wegen recht dichter Kontrollen unbequem geworden; ein Teil hat sich auf die spanischen Kanaren verlagert. Die sind aber keine Alternative für Tunesier, die grösste Gruppe der nach Italien kommenden Boatpeople. Zigtausende vertreibt die schwere Wirtschaftskrise, in welche die Pandemie das Touristenland Tunesien reisst. Selbst die Mittelklasse steigt in Boote, die, läuft alles gut, einen halben Tag nach Lampedusa brauchen.
Die meisten legen in Libyen ab. Dort schweigen seit Herbst die Waffen, das erleichtert es Schleppern und Migranten, sich zu bewegen. Die neue Regierung in Tripolis amtiert erst seit März, das Schlepperwesen und die Küstengegenden kontrolliert sie noch nicht. Man geht von etwa 900’000 Migranten in Libyen aus, und Italiens Innenministerium rechnet, dass 50’000 bis 70’000 nahe der Küste auf Überfahrt warten.
Umstrittene Küstenwache
Mehr als 6000 Bootsflüchtlinge hat dieses Jahr die libysche Küstenwache aufgehalten. Das dürfte einige Leben gerettet haben. Trotzdem ist die Truppe höchst umstritten. Es gab Verwicklungen mit Milizen und Schleusern, Zeugen berichten von brutalem Umgang mit Flüchtlingen. Und immer wieder kritisieren NGOs, die Libyer ignorierten Notrufe oder reagierten zu spät. Im April kamen beim Untergang eines Flüchtlingsboots vor Libyen etwa 130 Menschen um. Sie habe kein Schiff zur Verfügung gehabt, teilte die Küstenwache später mit.
Seenotretter und Menschenrechtler klagen die EU an, sie sei mit schuld am Tod von Migranten, weil sie keine von Staaten getragene Seerettungsmission entsende. Die verlangte am Dienstag auch UNHCR-Hochkommissar Filippo Grandi erneut nach einem Treffen mit der für Migration zuständigen EU-Kommissarin Ylva Johansson. Johansson reagierte ausweichend, sie weiss, eine gemeinsame Seenotrettung ist derzeit bei den EU-Ländern nicht machbar.
Draghi macht Druck auf Brüssel
Immerhin verweigert Italien nicht mehr wie zu Zeiten des Innenministers Matteo Salvini, Gerettete an Land zu bringen. Und das soll so bleiben: «Keiner wird in italienischen Hoheitsgewässern im Stich gelassen», sagte Premier Mario Draghi am Mittwoch in Rom. Die Achtung der Menschenrechte sei fundamentaler Teil der Migrationspolitik seiner Regierung. Die mache jetzt Druck in der EU, damit eine effiziente Verteilung der Migranten in Gang kommt. Jetzt sei vorrangig, so Draghi, im Sommer den Migrationsdruck einzugrenzen durch intensivere Zusammenarbeit mit Libyen und Tunesien bei den Grenzkontrollen.
Italien und die EU müssten Libyens Regierung in den Stand versetzen, den Menschen- und Waffenhandel zu bekämpfen unter Einhaltung der Menschenrechte. Man kann davon ausgehen, dass Draghi beim EU-Gipfel am 24. und 25. Mai sich mit seinen Forderungen nicht einfach abspeisen lassen wird.
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