Corona und MigrationGestrandet im Mittelmeer
Italien lässt keine Rettungsschiffe mehr anlegen – wegen Corona. Im Süden aber bangen sie um die Ernten: Wenn keine Migranten und Saisonniers mehr kommen können, wird alles verfaulen.
Im südlichen Mittelmeer überlagern sich zwei Phänomene, die nichts miteinander zu tun haben, sich aber offenbar gegenseitig verschärfen. Migration und Corona: Wie kann das gut gehen in Zeiten geschlossener Grenzen und sanitärer Notstände in den angesteuerten Zielländern?
Symbolisch für die Lage steht die Alan Kurdi, das Schiff der deutschen NGO Sea Eye. Es liegt mit 149 Flüchtlingen an Bord einige Seemeilen vor Palermo, noch in internationalen Gewässern. Vor einer Woche waren die Menschen vor den Küsten Libyens aus Seenot gerettet worden; an Bord ist wenig Platz, die Nöte der Crew und der Insassen sind gross. Doch die Alan Kurdi darf in Italien nicht anlegen.
«Das Dekret ist peinlich.»
Letzte Woche hatten vier italienische Minister ein Dekret erlassen, das die italienische Zeitung «La Repubblica» nun als «peinlich» beschreibt. Unter den Unterzeichnern war Gesundheitsminister Roberto Speranza, der in solchen Angelegenheiten sonst nicht hinzugezogen wird. Italien erklärt sich darin ausserstande, Flüchtlingsschiffen im Mittelmeer, die unter ausländischer Flagge unterwegs sind und ihre Fahrt nicht mit der Koordinationsstelle in Rom abgesprochen haben, als sicherer Hafen zu dienen – wegen Corona. Die nationale Notlage im Gesundheitswesen sei so gross, dass alle Ärzte und Pfleger sowie die ganze Logistik des Landes im Kampf gegen das Virus gebraucht würden.
Bei Sea Eye empfand man das zunächst als zynisch, weil es impliziere, dass Menschen auf hoher See sicherer seien als in Italien. Mittlerweile aber ist man dankbar dafür, dass sich eine Lösung abzeichnet, allerdings ist es eine kuriose: Die Italiener machen ein grosses Fährschiff bereit, die Azzurra mit fast 500 Betten, auf die dann alle Flüchtlinge verlegt werden. Dort sollen sie vierzehn Tage ausharren, bis die Quarantäne vorbei ist, umsorgt vom italienischen Roten Kreuz. Was dann mit ihnen passiert, ist noch unklar.
Covid-19 im Hotspot
Wahrscheinlich setzt dann das «Protokoll von Malta» ein, so nennt man das Abkommen, das Italien, Malta, Frankreich, Deutschland und Finnland im letzten Herbst unterzeichnet haben. Es sieht die Verteilung von Flüchtlingen vor, die über die zentrale Mittelmeerroute kommen. Diese «Koalition der Willigen» arbeitete in den vergangenen Monaten so gut und still zusammen, dass die Migrationsfrage kaum mehr ein Thema war – auch in Italien nicht, wo die Rechte um Matteo Salvini sie gerne für ihre Propaganda nutzt.
Naturgemäss nehmen die Überfahrten aus dem kriegszerrissenen Libyen, das selbst auch von der Pandemie betroffen ist, im Frühling mit besser werdendem Wetter immer zu. Es ist auch diesmal so. Manche Schlauchboote setzen von Tunesien über; allein an Ostern landeten so 101 Migranten in Pozzallo und dann 77 in Portopalo di Capo Passero im Südosten Siziliens, auch ohne Hilfe von Rettungsorganisationen. In Italien nennt man sie «Geisterboote». Die Menschen wurden in eine eiligst hergerichtete Unterkunft gebracht: Im ordentlichen Hotspot von Pozzallo, wo 50 Flüchtlinge auf den Entscheid warten, ob sie in Italien bleiben dürfen, leidet ein 15-jähriger Ägypter an Covid-19.
Die Furcht der Sizilianer
Für die Sizilianer, ein ausnehmend gastfreundliches Volk, steht gerade die Sorge zuvorderst, die Insel könnte über eine Migrationswelle doch noch in Not geraten. Entgegen den Befürchtungen zu Beginn der Epidemie blieb der Süden Italiens bisher nämlich einigermassen verschont, Sizilien schottete sich dafür fast ganz ab.
Darum war es nun Nello Musumeci, der rechte Gouverneur der Insel, der sich um die Organisation des Quarantäneschiffs Azzurra bemühte. «Die Menschen in Seenot müssen gerettet werden», sagte Musumeci. «Doch sie müssen dann in Quarantäne, und das muss auf einem Schiff in der Bucht passieren, schnell.» Die Sizilianer hätten Angst, dass ihrer Insel sonst dasselbe Drama widerfahre wie der Lombardei.
Es fehlen 200’000 Feldarbeiter
Ein anderes Drama droht auf den Gemüsefeldern und in den Obsthainen im Mezzogiorno. Normalerweise kommen Zehntausende Saisonniers für die Ernte aus dem Osten Europas. Zusammen mit zumeist papierlosen afrikanischen Migranten pflücken sie Tomaten, Zitronen, Auberginen, Melonen für die Märkte und Supermärkte im In- und Ausland. Für Hungerlöhne, unter sklavenähnlichen Bedingungen. Nun kann aus dem Osten niemand mehr anreisen, und Migranten kommen fast keine mehr an. Das Gemüse und die Früchte drohen zu verfaulen. 200’000 Feldarbeiter wären nötig, sofort.
Es gibt deshalb Appelle, man möge den sogenannten illegalen Einwanderern, die schon da sind, eine Aufenthaltsbewilligung und endlich auch einige Rechte geben. Damit sei in dieser Krise allen gedient, der Landwirtschaft und den Migranten. Doch wahrscheinlich wird dann Salvini wieder poltern.
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