Porträt über Serge GaillardVom Staatsfeind zum Starbeamten
Er stand kurz vor der Pension. Dann kam Corona und machte den Finanzverwalter zu einem der mächtigsten Schweizer Beamten. Dabei hatten bürgerliche Politiker seine Karriere einst zu stoppen versucht.
Es ist ein bisschen wie in diesen amerikanischen Filmen. Der alte Haudegen befindet sich schon auf dem Weg in den Ruhestand, als plötzlich das Chaos ausbricht. Da muss er halt nochmals ran. Ein letztes Mal die Welt retten.
Serge Gaillard, der im Juli 65 Jahre alt wird, hätte der erfolgreichste Eidgenössische Finanzverwalter der Nachkriegsgeschichte werden können. Seit 2012 wacht er über die Bundeskasse. Es waren acht goldene Jahre. Unter dem Strich hat Gaillard Überschüsse von fast 15 Milliarden Franken eingefahren. Ein Vielfaches seiner Vorgänger.
Doch dann kam Corona. Und nun ist alles anders. Wenn Serge Gaillard Anfang 2021 in Pension geht, wird er zum Abschluss ein Rekorddefizit präsentieren. Fehlbetrag: irgendwo zwischen 30 und 40 Milliarden Franken. Die schöne persönliche Bilanz: futsch.
Wurmt ihn das? «Eigentlich nicht», sagt Serge Gaillard, der sich nur widerwillig Zeit genommen hat für ein Gespräch. Die aktuelle Situation bestätige nur, dass die Schulden in guten Zeiten abgebaut werden müssten, weil es immer wieder zu Krisen mit einem starken Schuldenanstieg komme. Hätte er sich ein ruhigeres letztes Jahr gewünscht? «Im Gegenteil», sagt Gaillard. «Es gibt nie so viele spannende Fragen und Entscheidungen wie in einer Krise.»
Anders ausgedrückt: Man hat nie so viel Macht.
Er führte dem Bundesrat die Hand
Das Corona-Hilfspaket für die Wirtschaft hat viele Mütter und Väter. Aber nur eine Person redete praktisch überall mit, sass immer am Tisch, wenn in der Bundesverwaltung Grundsatzentscheide fielen oder Detailfragen einer Klärung bedurften: Serge Gaillard.
Das macht ihn besonders. Als der Bundesrat sich im März anschickte, mit Dutzenden Massnahmen und Abermilliarden von Franken den heftigsten Konjunkturschock seit fast fünfzig Jahren abzufedern, führte Gaillard ihm die Hand.
Diese Personalie erzählt viel über die jüngere Geschichte der Schweiz. Zum Beispiel über die Karriere einer politischen Idee: Seit seinen ersten öffentlichen Auftritten als Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes vertritt Gaillard die Auffassung, dass der Staat während Wirtschaftskrisen die Geldschleusen öffnen muss, um die Nachfrage zu stabilisieren und rezessive Phasen zu überwinden.
Im Deregulierungs-Eifer der Neunzigerjahre galt Gaillard noch als ideologisch verwirrter Theoretiker. Er sei ein «Schönwetter-Politökonom», spottete die «Weltwoche» 1997. In der Corona-Krise sind Gaillards Konzepte gewissermassen zur Staatsräson geworden. Energisch verteidigt, auch von finanzpolitischen Falken.
Serge Gaillard habe in der Corona-Krise einen sehr guten Job gemacht, sagt zum Beispiel SVP-Nationalrat Franz Grüter. Er sei «äusserst kompetent, sehr intelligent, stets sachlich und immer top informiert».
Gaillards Aufstieg in Bundesbern zeigt auch, wie die bürgerliche Schweiz gelernt hat, ihren linken Intellektuellen entspannter zu begegnen. Tatsache ist nämlich, dass derselbe Staat, dessen Kassen Serge Gaillard heute hütet, vor gut 35 Jahren noch aktiv versuchte, die Karriere von Gaillard zu stoppen. Mehrere Wegbegleiter haben dies gegenüber dieser Redaktion erstmals geschildert.
Gilgen gegen Gaillard
Nach seinem Volkswirtschaftsstudium wollte Serge Gaillard, Sohn einer Zürcher Mittelstandsfamilie, 1983 eine Doktorarbeit anhängen. Doch im Kanton Zürich der Achtzigerjahre war es nicht für alle einfach, in den öffentlichen Dienst einzusteigen. Gaillard spürte direkte Repressalien. Weil er in seiner Jugend der Revolutionären Marxistischen Liga angehört hatte, intervenierte der damalige Regierungsrat Alfred Gilgen (LdU) scharf, als die Universität Zürich Gaillard anstellen wollte. Gilgen wollte der Uni verbieten, Gaillard einen Job zu geben.
Als die Uni dem Erziehungsdirektor mitteilte, dass man sich die Personalentscheide nicht von der Politik diktieren lässt, fand man einen Kompromiss. Gaillard erhielt nur einen einjährigen Arbeitsvertrag. Bedingung für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses war ein jährlicher Bericht über Gaillards Forschungstätigkeit. Seine Professorin, Heidi Schelbert, musste sich persönlich bei Regierungsrat Gilgen dafür verbürgen, dass Gaillard an der Uni keine umstürzlerischen Tätigkeiten betrieb.
1988 reichte Serge Gaillard seine Doktorarbeit ein. Sie untersucht den Einfluss von Steuern auf Investitionsentscheide von Firmen. Sie ist – im Guten wie im Schlechten – das Gegenteil einer Streitschrift.
Jetzt entsteht die neue Ordnung
Wie blickt er auf jene Zeit zurück? Verschafft es ihm Genugtuung, ein Entscheidungsträger in jenem Staat geworden zu sein, der ihm einst feindlich gesinnt war? Serge Gaillard will sich dazu nicht äussern. Es sei eine alte Geschichte aus einer anderen Welt.
Er zieht es vor, über die Gegenwart zu sprechen.
Die Corona-Krise ist ein typischer Strukturbruch: Ein neues Zeitalter hat begonnen, mit neuen politischen Prämissen. In diesen Wochen nimmt diese neue Ordnung Form an. Wer jetzt dabei ist, wer mitredet in Bern, der kann die Schweiz für die nächsten zehn oder zwanzig Jahre prägen.
Das beste Beispiel: Noch vor den Sommerferien entscheidet der Bundesrat, wie er die Corona-bedingte Neuverschuldung von 30 bis 40 Milliarden Franken tilgen will. Binnen weniger Jahre, wie es das Finanzhaushaltsgesetz verlangt und wie es Finanzminister Ueli Maurer anstrebt? Oder erst auf längere Sicht, um die wirtschaftliche Erholung durch einen allzu harten Sparkurs nicht zu gefährden?
Wie hat ers mit den Schulden?
Es ist eine sehr technische Frage, aber eine mit enormen Folgen. Von ihr hängt extrem vieles ab: ob die Armee in zehn Jahren ihre teuren Bodensysteme (Panzer) erneuern kann. Wie sich die Ausgaben für Hochschulen, Bauern und Entwicklungshilfe entwickeln. Und nicht zuletzt, wie hoch der Reformdruck für die Sozialwerke in den nächsten Jahren sein wird.
Weil der Bundesrat uneinig ist über das Tempo des Schuldenabbaus, wird der Einschätzung des Finanzverwalters Gaillard ein besonderes Gewicht zukommen. Wie also hat es der SP-Mann mit den Staatsschulden? Unverkrampft, könnte man sagen. In der Geschichte habe es immer wieder Perioden gegeben, in denen die Schulden enorm gestiegen seien, sagt Gaillard. «In einer Krise kann man die Neuverschuldung oft gar nicht verhindern. Man würde nur Schaden anrichten.»
Zugleich könne man sich Neuverschuldung nur leisten, wenn man anschliessend wieder zu einer soliden Finanzpolitik zurückkehre. «Ich bin überzeugt, dass es eine Ausgabenregel für den Haushalt braucht. Die Politik hat leider schon die Tendenz, zu viel Geld auszugeben.»
Und was sagt er zum Tempo des Schuldenabbaus? Zügig? Vorsichtig? Serge Gaillard verzichtet auf eine Antwort. Zu heikel, so kurz vor dem Bundesratsentscheid.
Was man in Bern mit Sicherheit weiss, das sagt SVP-Mann Franz Grüter: «Es ist klar, dass Serge Gaillard dem Schuldenabbau seinen Stempel aufdrücken wird. Vielleicht ein letztes Mal.»
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