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Meinung

Analyse zu Tunesien
Vom Arabischen Frühling bleibt kaum noch etwas übrig 

Über 90 Prozent der tunesischen Bevölkerung stimmte seinem Verfassungsreferendum zu: Präsident Kaïs Saïed. 
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Mit mehr als 90 Prozent Ja-Stimmen hat der tunesische Präsident am Montag die letzte Hürde seines Basisdemokratie-Projekts genommen. Direkt nach der Verkündung der Wahlergebnisse tritt eine Verfassung in Kraft, mit der die parlamentarische Verfassung durch eine eigentümliche Mischung aus präsidentieller Allmacht und Lokalräten ersetzt wird.

Die seit der französischen Kolonialzeit vernachlässigten Regionen werden künftig in einem 2-Kammer-System vertreten sein, deren Vertreterinnen und Vertreter von lokalen Kommissionen bestimmt werden. Die nach der Revolution von 2011 entstandenen Parteien sollen keine grosse Rolle mehr spielen.

Rückkehr zur Autokratie befürchtet

Was nach Basisdemokratie klingt, ist aus Sicht der Kritikerinnen und Kritiker die Rückkehr zur Autokratie. Denn Justiz und Regierung unterstehen dem Präsidenten, und in den marginalisierten Gegenden kämen gerade jene an die Macht, gegen die Saïed so lautstark vorgeht: Schmuggler, ruchlose Geschäftsleute oder Islamisten haben die Leerstelle, die der Staat hinterlassen hat, längst genutzt.

Saïed hält dagegen und entsendet 3000 Beamte in die Regionen, die dem Präsidentenpalast in Karthago persönlich unterstehen. Das ist ähnlich undemokratisch wie das überstürzt abgehaltene Referendum selbst. Gäbe es ein Verfassungsgericht in Tunesien, es hätte Saïeds Projekt wohl kassiert.

Menschenrechtsorganisationen sind enttäuscht

Man kann darüber staunen, wie leichtfertig die tunesische Bevölkerung das bisher Erreichte aus der Hand gibt. Der Friedensnobelpreis für das sogenannte Dialog-Quartett von 2015 schien der Beweis zu sein, dass der schnelle Übergang zur Demokratie auch in Arabien möglich ist. Internationale Organisationen unterstützen daher die so aktive Zivilgesellschaft und den Reformprozess mit Millionen Dollar. Der Sieg des 64-jährigen konservativen Populisten Saïed ist für viele Menschenrechtler in Tunis eine Enttäuschung.

Doch die Mehrheit der Tunesierinnen und Tunesier klagt, dass bei ihnen all die im Westen gepriesenen Fortschritte nie angekommen sind. Von einem Friedensnobelpreis und Demokratie könne man sich nichts kaufen, hört man oft in verarmten Orten wie Kasserine oder Sidi Bouzid. Dort, wo der Suizid eines Studenten vor elf Jahren den Arabischen Frühling auslöste, gilt wie im ganzen Land wegen der Gefahr durch Islamisten ein Ausnahmezustand. Der Polizei ermöglicht dies, willkürlich gegen Kritiker, Homosexuelle und alle vorzugehen, die sich gegen die allgegenwärtige Korruption wenden.

«Die Demokratie brachte Redefreiheit, sonst wenig.»

Weil die Menschen den Staat nur in Form von korrupten Beamten kennen gelernt haben, ist die Mehrheit am Montag gar nicht erst wählen gegangen. Nur 28 Prozent taten dies. Doch diese geringe Wahlbeteiligung birgt auch einen Funken Hoffnung: dass der 25. Juli nur eine Episode in einem Übergangsprozess ist, der nach 75 Jahren Kolonialzeit und drei Jahrzehnten Diktatur eben etwas mehr Zeit braucht. Dabei erwies sich für Tunesien der Titel als Vorzeigeland des Arabischen Frühlings eher als Bürde denn als Ansporn. Der Titel lenkte den Blick auf kleine Erfolge, während die alten Eliten weiterhin ihre Wirtschaftskartelle absicherten und die Parteien ihre Klüngelwirtschaft weiterführten. Die Demokratie brachte Redefreiheit, sonst wenig.

Kaïs Saïed hat dies offengelegt und wurde so zu einer Symbolfigur. Aber auch von ihm werden die Menschen schon bald ein besseres Leben einfordern.