Zehn Jahre Arabischer Frühling«Ghadhafis Tod war der schlimmste Moment meines Lebens»
Ist die arabische Revolution gescheitert? Hana El-Gallal berichtete 2011 unter dem Pseudonym Layla der ganzen Welt von den Protesten in Libyen und ist noch heute überzeugt, dass der Aufstand nicht umsonst war.
Als wir Hana El-Gallal in Bern treffen, ist sie aufgewühlt. Sie ist erst seit wenigen Wochen in der Schweiz. Und in den letzten Tagen wurde ihre Familie in Libyen bedroht. Ein Unbekannter hatte Social-Media-Profile mit ihrem Namen angelegt und mit Posts einflussreiche Personen in ihrem bürgerkriegserschütterten Heimatland angegriffen. Trotzdem will El-Gallal mit uns sprechen, über ihre Rolle im Arabischen Frühling, ihre Hoffnungen und ihr aktuelles Leben.
Damit ist sie eine Ausnahme. Viele Aktivisten, die vor zehn Jahren in den Strassen der arabischen Welt gegen ihre autokratischen Herrscher protestiert haben, wollen heute nicht mehr darüber sprechen. Sie fürchten um ihr Leben oder um das ihrer Familienangehörigen und Freunde in ihrer Heimat, wenn sie sich kritisch äussern. Bei einigen geht das so weit, dass sie sich inzwischen sogar dafür schämen, dass sie protestiert haben.
Zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling herrscht in Libyen Bürgerkrieg. Haben sich die Proteste gelohnt?
Wir haben in unserem Land unter permanenter Angst vor Ghadhafis Schergen gelebt. Wir sahen Erhängungen in den Strassen, es gab kaum Arbeit, wir hatten kein Wasser, keinen Strom. Und das, obwohl unser Land reiche Ölvorkommen hat. Es musste zu einem Punkt kommen, wo das alles explodierte. Ich glaube daran, dass unser Volk ein besseres Leben verdient, wir mussten den ersten Schritt machen, auch wenn ich gehofft hatte, dass es weniger Leid auslösen würde. Vielleicht war es naiv, zu glauben, dass wir alle das Gleiche wollten, dass wir alle für Demokratie kämpfen würden.
Im Westen haben wir den Eindruck, dass sich nichts verbessert hat. Trifft das Ihrer Meinung nach zu?
Menschen und Politiker in Europa haben erwartet, dass Libyen, das 42 Jahre in einem dunklen Loch war, quasi über Nacht eine Demokratie wird. Eine solche Erwartung ist illusorisch und hilft uns nicht im Geringsten. Auch in Europa dauerte es über 200 Jahre, bis die Demokratie etabliert war. Selbst nach der Französischen Revolution kamen Terror und die Monarchie noch einmal zurück. Aber wir haben einen ersten Schritt gemacht. Libyen ist nicht mehr Ghadhafis Land.
1999 verliess El-Gallal Libyen ein erstes Mal, um ihren Vater zu einem medizinischen Eingriff in Genf zu begleiten. Zurück kam sie nicht mehr. Weil sie schon damals für mehr Rechtsstaatlichkeit plädierte, stand sie auf einer schwarzen Liste des Regimes. Sie blieb in der Schweiz, heiratete, bekam zwei Söhne, machte an der Universität Bern das Doktorat in Recht und nahm die Schweizer Staatsbürgerschaft an. 2008 konnte sie schliesslich nach Libyen zurückkehren. Als die Proteste im Februar 2011 auf ihre Heimat übergriffen, arbeitete El-Gallal als Professorin für Recht an der Universität von Benghazi, der zweitgrössten Stadt in Libyen.
Was war vor zehn Jahren der Auslöser, dass Sie auf die Strasse gingen?
Es gab Gerüchte, wonach ein junger Mann bei den Protesten von der Polizei erschossen worden war. In diesem Moment war für mich klar: Ich kann diese jungen Menschen auf der Strasse nicht alleinlassen. Also brachte ich meine beiden Söhne zu meiner Schwester und sagte ihr: «Du musst sie in Sicherheit bringen, falls mir etwas zustösst.»
Mit welchen Hoffnungen schlossen Sie sich den Protesten in Benghazi an?
Für mich war das ein One-Way-Ticket. Ich glaubte nicht, dass ich den nächsten Tag oder auch nur die nächste Stunde erleben würde. Ghadhafi war seit 42 Jahren an der Macht, er war für uns wie ein Gott. Wir hätten niemals geglaubt, dass wir ihn stürzen könnten. Wir dachten, dass wir verhaftet würden, womöglich gefoltert oder getötet. Aber in diesem Moment spielte das für mich keine Rolle.
«Für mich war das ein One-Way-Ticket.»
Sie waren als Mutter bereit, Ihr Leben zu opfern?
Es ging immer weiter bergab in unserem Land. Mit elf Jahren musste ich ins militärische Training, musste lernen, mit einer Kalaschnikow umzugehen. In was für einem System muss ein Kind so was können? Wir hatten nichts zu sagen in unserem Land, lebten unter einer Diktatur. Es gab keinen Rechtsstaat, der einen schützte. Es herrschte Armut. Da kommt man irgendwann an einen Punkt, wo der Tod keine Rolle mehr spielt.
Was sahen Sie in den Strassen in diesen ersten Stunden?
Als ich ankam, hielt man mich für eine Ausländerin, weil ich kein Kopftuch trug, weshalb man mich fragte, ob ich Englisch spräche. Ich erklärte, dass ich Libyerin sei und helfen wolle und Englisch könne. Man hielt mir ein Handy mit einem Telefonat mit einem ausländischen Journalisten hin, der kein Arabisch konnte. Fortan übernahm ich unter dem Pseudonym Layla die Kommunikation nach aussen und erzählte der Welt, was in Benghazi geschah.
Die Augenzeugenberichte El-Gallals aus den ersten Tagen sind eindrücklich. Sie warnt gegenüber al-Jazeera vor einem Massaker an der Zivilbevölkerung und fleht die westlichen Mächte um Hilfe an: «Ihr werdet schuld sein, wenn ihr jetzt wegschaut und zulässt, dass Ghadhafi unschuldige Menschen abschlachtet.» Doch entgegen allen Erwartungen ist die Revolutionsbewegung in Benghazi schnell erfolgreich. Nach vier Tagen ist der Osten Libyens von Ghadhafi befreit.
Wie lebte es sich im befreiten Benghazi?
Die nächsten drei Monate waren wie in einem Traumland. Wir glaubten plötzlich, dass all unsere Ziele nur noch einen Schritt entfernt wären. Es herrschte eine riesige Euphorie, niemand ging nach Hause. Weil wir keine Teller hatten, assen wir Pasta aus leeren Orangenschalen. Und alle arbeiteten zusammen, zogen an einem Strick. Doch mit dem Tod von Ghadhafi endete das.
Im Oktober 2011 wird Muammar al-Ghadhafis Autokonvoi nahe seiner Heimatstadt Sirte von Nato-Flugzeugen angegriffen. Ghadhafi überlebt und sucht Schutz in einer nahe liegenden Kanalröhre, wo er von Rebellen aufgespürt und gefangen genommen wird. Dabei werden ihm mehrere blutende Wunden zugefügt. In den Stunden darauf stirbt Ghadhafi in den Händen der Rebellen unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen.
Wo erreichte Sie die Nachricht von Ghadhafis Tod?
Ich kam gerade aus meinem Büro in Benghazi und erhielt einen Telefonanruf. Aber ich habe das nicht geglaubt. Erst als ich im Haus meiner Eltern ankam und die Bilder des getöteten Ghadhafi im Fernsehen sah, begann ich es zu glauben.
«Ich wollte Ghadhafi stürzen sehen, aber nicht auf diese Weise.»
Wie war Ihre Reaktion?
Es war einer der schlimmsten Tage meines Lebens. In unserem Wohnzimmer war es totenstill, es gab keine Feier. Ich wollte Ghadhafi stürzen sehen, aber nicht auf diese Weise. Ich glaube, an diesem Tag scheiterte die Revolution.
Warum?
Ich kämpfte für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Es war ein Punkt, an dem sich zeigte, ob die Revolution für ihre Ideale einstand oder ob wir den gleichen Weg gehen würden wie Ghadhafis Regime zuvor und Menschen foltern und ohne Prozess hinrichten würden. Ich wollte Ghadhafi vor Gericht sehen, ich wollte wissen, was in den 42 Jahren seine Herrschaft passiert war.
Wie meinen Sie das?
Wir wollten wissen, welche Länder Ghadhafi unterstützt hatten. Er traf sich mit Tony Blair, Nicolas Sarkozy und so vielen anderen internationalen Staatschefs. Wir wollten wissen, warum sie ihn unterstützten. Wo ist das ganze Geld aus der libyschen Ölförderung geblieben? Wer hat mit Ghadhafi kooperiert? Die Staatschefs des Westens haben ihm fast 42 Jahre lang die Türen zur Welt weit aufgemacht, und erst dann war er plötzlich ein Terrorist für sie.
El-Gallals schlechte Vorahnung sollte sich bewahrheiten. Nach Ghadhafis Tod verstricken sich die Rebellen in Grabenkämpfe und werden von religiösen Extremisten unterwandert. 2013 steht Benghazi zunehmend unter der Herrschaft der islamistischen Terrorgruppierung Ansar al-Sharia. Statt Demokratie fordert sie eine Gesetzgebung auf Basis der Scharia. Säkulare Aktivisten wie El-Gallal werden zur Zielscheibe. Terroristen versuchen ihre Söhne zu entführen, zwei ihrer Studenten werden von einer Autobombe getötet. Im Sommer 2013 wird der Aktivist Abdelsalam al-Mismari, El-Gallals bester Freund, erschossen, als er nach dem Freitagsgebet eine Moschee verlässt. Für El-Gallal wird es zu gefährlich, sie muss fliehen. Mit zwei vollen Koffern und ihren Söhnen verlässt sie das Land Richtung Jordanien.
Wann haben Sie entschieden zu fliehen?
Abdelsalam und ich waren ein Team. Nach seinem Tod erhielten meine Brüder Telefonanrufe, dass auch ich auf der Todesliste stünde. Mein Vater, der in Jordanien lebte, befahl meinen Brüdern, mir ein Flugticket zu kaufen und mich aus dem Land zu schicken. Ich bestand darauf, dass ich erst drei Tage nach Abdelsalams Tod gehen würde, weil wir im Islam drei Tage lang um unsere Verstorbenen trauern. Am Morgen des vierten Tages machte ich mich mit meinen Söhnen auf den Weg zum Flughafen.
«Meine Brüder erhielten Telefonanrufe, dass ich auf der Todesliste stünde.»
Was ging Ihnen durch den Kopf, als das Flugzeug auf die Startbahn rollte?
Ich weinte. Ich fühlte mich schuldig. Ich hatte das Gefühl, dass ich alles verraten würde, wofür ich einstand, weil ich meine Leute und meine Stadt verliess, um mich in Sicherheit zu bringen.
Nach El-Gallals Flucht bricht in Libyen ab 2014 ein blutiger Bürgerkrieg aus, der bis heute andauert. El-Gallal kehrt nach sieben Jahren in Jordanien im Herbst 2020 mit ihren Söhnen in die Schweiz zurück, um sich hier ein neues Leben aufzubauen.
Haben Sie Jordanien aus Sicherheitsgründen verlassen?
Nein, ich war in Jordanien nicht in Gefahr. Aber Sicherheit hat für mich sowieso nichts mit meiner körperlichen Sicherheit zu tun. Sicherheit bedeutet für mich, dass auch meine Familie und meine Freunde in Libyen sicher sind. Erst wenn das der Fall ist, werde ich mich sicher fühlen können.
Sind Sie zuversichtlich, dass das bald der Fall sein wird?
Der Weg zu Demokratie ist ein langer Prozess, und wir stehen erst ganz am Anfang. Aber wir haben den Samen ausgesät. Eine weitere Revolution wird kommen. Ob ich noch ein demokratisches Libyen erleben werde, weiss ich nicht. Aber es wird kommen.
Die Geschichte kam zustande mithilfe von Dr. Elham Manea vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.
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