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Psychische Not in der Corona-Krise
Viele suchen verzweifelt einen Therapieplatz

B.L. hatte schon vor Corona psychische Leiden. «Doch mit den Corona-Massnahmen haben sich meine Probleme noch verschärft.»
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Der 34-jährige B.L. (Name der Redaktion bekannt) sucht seit letztem Herbst einen Psychotherapeuten. Sowohl bei Psychiatern wie bei psychotherapeutisch arbeitenden Psychologen, die von der Grundversicherung bezahlt werden, erhielt er nur Absagen. Die Therapeuten sind ausgelastet, haben lange Wartelisten.

B.L. leidet an einer Zwangsstörung und ADHS. Sein Studium musste er schon vor der Corona-Krise wegen eines Burn-out abbrechen. Mit den Folgen der Pandemie verstärkte sich zudem sein Suchtverhalten. Dieses bekomme er ohne Hilfe nicht in den Griff, sagt B.L. «Es war schon vor Corona schwierig. Doch mit den Corona-Massnahmen und allen Folgen haben sich meine Probleme noch verschärft.» Er benötige dringend einen Therapieplatz.

Als Ursache für seine Krise sieht B.L. den Wegfall der Tagesstrukturen. Das Arbeitsintegrationsprojekt, bei dem er mit Umzugs-, Garten- und Reinigungsarbeiten beschäftigt war, wurde wegen der Corona-Massnahmen eingestellt. Auch der sportliche Ausgleich fehlt ihm. Vor dem Lockdown besuchte er in Zürich Tanz-, Meditations- und Yogakurse, die nun alle wegen Corona nicht stattfinden.

Kasse zahlt Psychologen nicht

B.L. lebt von der Sozialhilfe und ist darauf angewiesen, dass die Krankenversicherung die Therapie bezahlt. Mehrmals hätte er bei Psychologen einen Therapieplatz erhalten. Doch bei diesen übernimmt die obligatorische Krankenversicherung die Kosten nur, wenn sie delegiert arbeiten, also in einem Anstellungsverhältnis mit einem Psychiater oder einer Psychiaterin sind. Keiner der Angefragten erfüllte jedoch diese Bedingung. Obwohl B.L. eine Zusatzversicherung hat, müsste er einen erheblichen Teil der Kosten selber tragen.

Am liebsten würde er eine Therapie bei seinem früheren Jobcoach machen, der auch als Psychotherapeut arbeitet. Doch die Kasse zahlt nicht. B.L. will zudem einen Mann als Therapeuten. «Das ist ein weiteres Problem, denn es gibt mehr Frauen als Männer mit psychologischer Ausbildung, die Psychotherapie anbieten.»

Wie schwierig es zurzeit ist, zu einer ambulanten Therapie zu gelangen, erlebte auch C.G. (Name der Redaktion bekannt) aus dem Kanton Zürich. Er kündigte im Februar 2020 seine Stelle als Finanzfachmann, weil er sich ausgebrannt fühlte und mit seinem Vorgesetzten im Dauerclinch war. Er wollte sich eine einjährige Auszeit nehmen, um zu reisen. Doch dann kam Corona, und seine Pläne zerschlugen sich. Auch die Wohnung hatte er bereits gekündigt, er musste wieder zu seinen Eltern ziehen. Der Lockdown, die eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten warfen C.G. in eine tiefe Krise. Ihm fehlten die Abendessen mit Freunden, Freizeitbeschäftigungen wie Badminton und Saunabesuche. Ihn plagten Existenzängste und Suizidgedanken.

C.G. litt an mittelschweren bis schweren Depressionen, doch rasche Hilfe fand er nicht. Im April und Mai fragte er 20 Psychiaterinnen und Psychiater für eine ambulante Therapie an. Überall erhielt er Absagen, weil die Therapeuten ausgelastet waren. Seine Hausärztin suchte ihm schliesslich einen Platz in einer Klinik, wo er zwei Monate verbrachte.

«Der Staat gibt zurzeit Dutzende Milliarden an Wirtschaftshilfen aus und vergisst all jene, die in dieser Krise in psychische Notlagen geraten.»

C.G., Opfer der Krise

Mittlerweile geht es dem 35-Jährigen besser. Noch immer leidet er aber unter der gesellschaftlichen Isolation, die die Corona-Massnahmen bewirken. C.G. hat nun eine Psychiaterin gefunden, bei der er einmal pro Woche in Therapie geht. Auch nimmt er weiterhin Medikamente . «Es gibt schlicht zu wenig Angebote, die von der Krankenversicherung bezahlt werden», sagt C.G. «Der Staat gibt zurzeit Dutzende Milliarden an Wirtschaftshilfen aus und vergisst all jene, die in dieser Krise in psychische Notlagen geraten.»

Schon vor der Corona-Krise fanden Tausende von Menschen mit psychischen Erkrankungen keinen Therapieplatz. Die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) schätzt, dass zusätzlich zu den rund 400’000 Menschen in Behandlung nochmals so viele kommen, die eine Therapie benötigen. Die Corona-Krise hat den Bedarf noch vergrössert. Zwei Drittel der psychotherapeutisch arbeitenden Psychologinnen und Psychologen müssen regelmässig Patienten abweisen. Dies ergab kürzlich eine Umfrage der Berufsverbände. Über 80 Prozent der Psychotherapeuten geben an, dass bei ihnen Menschen in psychischer Not aus finanziellen Gründen auf eine Therapie verzichten. Dabei hätten sich Problemstellungen und Symptome während der Pandemie verschlimmert. Am meisten genannt werden Depressionen, Angst- und Zwangserkrankungen,

Hoffen auf den Bundesrat

Doch es besteht Hoffnung auf Linderung. Der Bundesrat dürfte noch diesen Monat die von den Psychologinnen und Psychologen seit langem geforderte Zulassung zur Grundversicherung beschliessen. Künftig sollen Psychologen mit therapeutischer Fachausbildung selbstständig abrechnen können, sofern die Behandlung auf ärztliche Anordnung erfolgt. Entscheidend ist allerdings, ob auch Hausärztinnen und Kinderärzte Therapien verschreiben dürfen oder nur die Psychiater. Letzteres würde die Situation möglicherweise noch verschlimmern, weil Psychiater kein Interesse daran hätten, die nötigen Verschreibungen auszustellen, sagt FSP-Sprecher Philipp Thüler. Wenn auch Hausärzte verschreiben dürfen, könnten hingegen zusätzlich rund 100’000 Patienten auf Kassenkosten behandelt werden.

Gesundheitsminister Alain Berset schlug in der Vernehmlassung vor, dass auch Hausärztinnen und Hausärzte verschreiben dürfen. Allerdings warnten bürgerliche Parteien und Krankenversicherer davor, dass dies zu Zusatzkosten von jährlich einer halben Milliarde Franken und einem Prämienschub führe. Der Kassenverband Santésuisse kommt zu dieser Kostenschätzung, weil er davon ausgeht, dass mit der Kassenzulassung eine tarifliche Gleichstellung der Psychologinnen und Psychologen mit den ärztlich ausgebildeten Psychotherapeuten erfolgt, was einer Lohnerhöhung gleichkommt.