Regierungswechsel in DeutschlandLaschet übernimmt Verantwortung für Wahldebakel
Die Parteispitzen von SPD, Grünen und FDP zeigten sich nach ersten Sondierungen in Berlin optimistisch – und sonnten sich in einer Wohlfühlatmosphäre.
Der Kanzlerkandidat Armin Laschet hat die alleinige Verantwortung für das miserable Abschneiden der CDU/CSU bei der deutschen Bundestagswahl übernommen. «Wir haben ein bitteres Ergebnis erzielt», sagte er am Samstag während einer Versammlung der Jungen Union. «Nichts lässt sich schön reden. Die Verantwortung trage ich als Vorsitzender und Kanzlerkandidat», sagte Laschet. «Den Wahlkampf, die Kampagne habe ich zu verantworten und sonst niemand.»
Am Freitag hatten die Chefs von SPD, Grünen und FDP während vier Stunden Verhandlungen über eine mögliche künftige Regierungszusammenarbeit in Deutschland geführt. Die erste Hürde ist genommen, hiess es an einer anschliessenden Medienkonferenz. Die Botschaft: Wir wollen es ernsthaft miteinander versuchen. Doch ausgelassen waren die Parteispitzen nicht. Schon in der Sondierung musste jede Partei schmerzhafte Eingeständnisse machen.
So haben die Unterhändler am Freitag ein zwölf Seiten langes Einigungspapier im Gepäck, das eine grundlegende Modernisierung Deutschlands formuliert und gemeinsamer Kitt von drei recht unterschiedlichen Parteien in einer Bundesregierung sein soll.
Dafür finden sie grosse Worte, die die Latte für ein Nein der Parteigremien, die der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen für eine sogenannte Ampel-Regierung noch zustimmen müssen, ziemlich hoch hängt.
Parteichefs sprechen über «Aufbruch für das gesamte Land»
«Es wird das grösste industrielle Modernisierungsprojekt, das Deutschland wahrscheinlich seit über 100 Jahren durchgeführt hat», kündigt SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz an. FDP-Parteichef Christian Lindner beschreibt fast poetisch eine «neue politische Fantasie». Viel ist die Rede von einem Aufbruch für das gesamte Land, für den Einzelne auch zurückstecken müssen.
Dabei betonen Rot, Grün und Gelb unisono den neuen politischen Stil: Bei Verhandlungen nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, den «Formelkompromiss», wie Lindner es nennt, sondern die Richtungsentscheidung für eine echte Erneuerung.
Keine der Parteien dürfe sich nur den eigenen Wählern verpflichtet fühlen. «Dabei kommt es immer zu einem Geben und Nehmen», betonen Scholz wie Lindner und die Grünen-Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck. Hoffnung mache eher die Dynamik der eigentlich so unterschiedlichen Partner als die politischen Schnittmengen und Wertevorstellungen.
Strittige Punkte: Tempolimit und Umverteilung
Bei einigen besonders strittigen Themen wollten die Unterhändler schon vor dem Beginn echter Koalitionsverhandlungen Pflöcke einschlagen. Beispiel Klimaschutz, den sie als «grösste Herausforderung unserer Zeit» beschreiben und als Chance für den Industriestandort Deutschland. Baerbock benutzt den Begriff «klimagerechter Wohlstand».
Der Ausbau der Erneuerbaren Energien soll drastisch beschleunigt werden. Zum Plan gehört auch ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung, «idealerweise» bis 2030. Die Sozialdemokraten bekommen ihren Mindestlohn von 12 Euro, den die FDP im Wahlkampf strikt ablehnte. Die Liberalen setzen dafür eine Superabschreibung für Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung durch.
Manche Punkte waren wohl schmerzhaft: So muss Habeck vor den Kameras einräumen: «Das Tempolimit konnten wir nicht durchsetzen.» Auch ihre Idee einer finanziellen Umverteilung zugunsten von Geringverdienern mussten SPD und Grüne aufgeben. Steuer-Entlastungen für Geringverdiener sind nicht mehr vorgesehen, auch keine Vermögensteuer für Reiche. «Das ist halt der Preis, den wir zahlen, weil die FDP sich an der Stelle durchgesetzt hat», sagt Habeck.
Ausreichende Investitionen sollen auch ohne Steuererhöhungen möglich sein, meinen die Sondierer – bloss wie man sie stemmen will, bleibt auch nach mehrmaligem Nachhaken offen. Der Spielraum sei da, betont Scholz lediglich, doch Zahlen liegen noch keine auf dem Tisch.
Aufnahme intensiverer Gespräche empfohlen
Stattdessen sonnen sich die Parteispitzen in ihrer neuentdeckten Wohlfühlatmosphäre. Das Vertrauen in den diskret geführten Verhandlungen sei gewachsen, man habe eine Neugier auf die Positionen des Gegenübers gezeigt, betonen sie.
«Allein dieser Stil markiert schon eine Zäsur in der politischen Kultur Deutschlands», sagt Lindner. Wenn sich so unterschiedliche Parteien zusammenraufen könnten, könne ihr Bündnis «grösser werden als die Summe nur ihrer Teile».
Ist damit jetzt alles unter Dach und Fach? Bis eine Regierung steht, wird es – selbst wenn alles gut läuft – noch Wochen, wenn nicht Monate dauern. Erst einmal empfehlen die Parteispitzen ihren Gremien nur die Aufnahme intensiverer Gespräche. Wo die Sondierungen Themen oberflächlich anrührten, soll es nun ins Detail gehen.
«Das ist ja Sinn und Zweck von Koalitionsverhandlungen, dass man auch noch was zu besprechen hat», meint Baerbock. Und natürlich seien auch noch nicht alle Hürden aus dem Weg geräumt. Aber jetzt, sagt Habeck, erstmal «kurz ausschlafen». «Und dann wird es – wenn alle Parteigremien zustimmen – in der nächsten Woche auf die Koalitionsverhandlungen einbiegen.»
SDA/oli
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