Streik-Chaos in GrossbritannienVerletzte mussten stundenlang auf den Rettungswagen warten
Wegen einem Streik der Rettungswagenfahrer mussten Betroffene sich teilweise selber einen Transport organisieren. Nächste Woche wird das Pflegepersonal den Klinikbetrieb lahmlegen.
Im Vereinigten Königreich hat die noch immer anschwellende Streikwelle jetzt erstmals ernste Konsequenzen gezeitigt. Wegen des eintägigen Ausstands der Rettungswagenfahrer am Mittwoch war es vielerorts in England und Wales schwer, motorisierte Hilfe zu bekommen – selbst bei Stürzen und bei anderen Verletzungen aller Art. Bereits am Vortag hatte erneut das Pflegepersonal an den Kliniken gestreikt und so das Gesundheitswesen – den National Health Service (NHS) – weitgehend lahmgelegt. Ein weiterer Streik ist für den 28. Dezember geplant.
Der gestrige Arbeitskampf der Rettungswagenfahrer war aber der bisher folgenreichste Ausstand im Gesundheitsbereich. Für die Dauer dieses Streiks wurden betroffene Mitbürgerinnen und Mitbürger von der Regierung aufgefordert, notfalls Taxis zu benutzen oder sich von Familienmitgliedern oder Bekannten zur nächsten Unfallstation fahren zu lassen. Im Blick auf den Streik hatten Minister und NHS-Bosse der Bevölkerung geraten, möglichst nicht auf Leitern zu klettern, das Fahrrad für den Tag daheim stehen zu lassen, keinen «Kontaktsport» (wie Rugby) zu betreiben und vor allem «nicht unmässig zu trinken».
Soldaten als Aushilfsfahrer
Zwar hatten die Gewerkschaften der Rettungsfahrer versichert, dass ihre Mitglieder in unmittelbar lebensbedrohenden Situationen, wie bei Herzinfarkten oder bei Atemnot von Patienten, weiter anrücken würden. Bereits in «Kategorie 2»-Fällen aber, zu denen zum Beispiel Schlaganfälle und schwere Verbrennungen zählen, musste man die Hilfe von der Zahl der verfügbaren Fahrer abhängig machen. Für die eher regulären Krankentransporte, wie sie von den Rettungswagen sonst ebenfalls übernommen werden, hatte die Regierung 600 Soldaten als Aushilfsfahrer abgestellt.
Schon am Mittwochmorgen hatten Regierungsmitglieder und Rechtspresse den streikenden Rettungswagenfahrern die Verantwortung für eventuelle Todesfälle zugewiesen. Die einflussreiche Boulevardzeitung «Daily Mail» füllte ihre Frontseite mit der Frage: «Wie werden sie damit leben können, wenn Leute heute sterben?» Gesundheitsminister Steve Barclay warf den Gewerkschaften vor, sich «bewusst dafür entschieden» zu haben, Patienten «Schaden zuzufügen». Auf Gewerkschaftsseite wurde diese Bemerkung mit Empörung aufgenommen.
Verhärtete Fronten
Tatsächlich haben sich die Fronten bei den Arbeitskämpfen in den letzten Tagen spürbar verhärtet. Expertinnen und Experten sagen Streiks im neuen Jahr auf Wochen oder sogar Monate hinaus. Minister Barclay und Premier Rishi Sunak beharren darauf, dass sie wegen der angespannten Haushaltslage nur einer Lohnerhöhung von rund 4 Prozent zustimmen können: und dass es über weitergehende Forderungen der Gewerkschaften nichts zu verhandeln gibt. Die NHS-Gewerkschaften fordern die sofortige Aufnahme von Gesprächen, bevor sie weitere Streikaktionen aussetzen.
Die Inflationsrate auf den Britischen Inseln liegt zurzeit bei knapp 11 Prozent. Schon in den vergangenen Jahren sind die Reallöhne in weiten Teilen des NHS deutlich abgesackt. «Schlechte Bezahlung» machen Pflegerinnen und Rettungswagenfahrer gleichermassen verantwortlich für abwandernde Mitarbeiter und dünne Personalbestände. Auch über chronische Unterfinanzierung des NHS, überfüllte Stationen und Bettenmangel wird seit langem geklagt. Patienten, die den Rettungsdienst rufen, müssen auch bei «Normalbetrieb» mit immer längeren Wartezeiten – erst zu Hause und dann in den Unfallstationen selbst – rechnen.
Eine 93-Jährige wird zum Symbol
Schlagzeilen machte zuletzt der Fall der 93-jährigen Waliserin Elizabeth Davies, die voriges Wochenende nach einem Hüftbruch 25 Stunden lang in enormen Schmerzen daheim am Boden lag, bevor ein Rettungswagen für sie zur Verfügung stand – und das, obwohl ihre Familie wieder und wieder beim Notdienst angerufen hatte. Nach ihrer Ankunft in der örtlichen Klinik musste Frau Davies weitere 12 Stunden warten, bis man einen Platz auf einer Station in der Klinik für sie fand.
NHS-Mitarbeiter, meinte Gewerkschaftssprecherin Rachel Harrison, hätten sich «keineswegs bewusst dafür entschieden, jemanden in Gefahr zu bringen», wie Minister Barclay «unverschämterweise» behaupte. Sie hätten sich stattdessen «bewusst dafür entschieden, für ein Gesundheitswesen einzutreten», von dem sie wüssten, «dass es ihnen unter den Händen zerbröckelt und zerfällt».
Allzu lange hätten Pfleger und Ambulanzpersonal mit angesehen, «wie jedes Jahr Tausende ihrer Kolleginnen und Kollegen dem NHS wegen schlechter Bezahlung und schlechter Arbeitsbedingungen den Rücken kehrten», sagte Harrison – was sie zur Überzeugung gebracht habe, «dass sie nicht mehr in der Lage waren, für eine sichere Betreuung von Patienten zu sorgen». Umfragen zufolge unterstützen zwei Drittel aller Briten die Streikmassnahmen der Krankenpfleger. Nur 28 Prozent sprechen sich gegen sie aus.
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