Städtereise HollandEine Stadt wie ein Abenteuerspielplatz – für Grosse
Utrecht hat keinen Problemtourismus wie die Nachbarin Amsterdam. Aber auch eine charmante Altstadt. Ausserdem eine neue Attraktion, die jetzt schon Kult ist. Unbedingte Reiseempfehlung in fünf Kapiteln.
- In Utrecht wurden ehemalige Bausünden wie eine Autobahn zugunsten der Grachten rückgebaut.
- Moderne und Geschichte verbinden sich in Orten wie der umgestalteten Westerkerk.
- Das Doloris Anoma Maze bietet ein faszinierendes Erlebnis für neugierige Erwachsene.
Manchmal braucht es nicht mehr, als satt, zufrieden und leicht erschöpft eine Stadt zu verlassen mit dem Gefühl, dort ein paar Tage auf beste Art verplempert zu haben. Utrecht muss weder Sehnsuchtsziel noch Metropole sein, um Gästen dieses kleine Glück zu ermöglichen: Es ist wunderbar übersichtlich, aber eben auch unbekannt genug, um überraschen zu können.
Die Einheimischen spielen mit ihrer Stadt, wandeln Altes um, korrigieren Bausünden und schaffen neue Orte zum Geniessen. Nur weil etwas lange so war, muss es so bleiben – dieser Gedanke scheint in Utrecht grundsätzlich fremd zu sein. Und so ist ein Abstecher dorthin auch ein fröhlicher Crashkurs in freiem Denken.
Stadt der Verwandlung: Von Kirchen und verschwundenen Autobahnen
Ja, das ist wirklich unglaublich, denkt man beim Blick auf das leise dahinplätschernde Wasser des Kanals. Die Frage dazu lautet: Kannst du dir vorstellen, dass hier mal eine Autobahn war? Und diese Frage wird Besuchern in Utrecht ziemlich zuverlässig gestellt.
Um das Einkaufszentrum leichter erreichbar zu machen, hatte man in den autoverrückten Siebzigerjahren mitten im Zentrum einen historischen Kanal zugeschüttet und asphaltiert. Inzwischen aber wurden die Fahrspuren wieder geflutet. Es ist leiser, grüner, schöner am Catharijnesingel, der Grachtengürtel umschliesst erneut ohne Unterbrechung die Altstadt.
Beim Entlangspazieren kann man gleich noch mehr Umwandlungen entdecken. Fast gleichzeitig mit der Wiederherstellung der Gracht hat an deren Ufer eine alte Kirche eine neue Bestimmung gefunden. Hinter der Backsteinfassade der Westerkerk wird heute gefrühstückt statt gebetet, gefeiert statt Andacht gehalten.
Kurz vor der Pandemie eröffnete im historischen Gemäuer das Bunk, eine Mischung aus Bar, Restaurant, Kulturzentrum und Hostel. Beim Eintreten in das hohe Gewölbe springt einem immer noch die riesige Orgel an der Rückwand ins Auge. Sie ist nicht zur Deko deklassiert, sondern darf weiterhin ab und zu bei Konzerten erklingen.
Ansonsten legt sich eher Loungemusik über das Geplauder der Menschen auf den bunten Barhockern und an den langen Tischen. In der mehrstöckigen hölzernen Schachtelkonstruktion in der Mitte verbergen sich Schlafboxen – ein Hotel mitten im Kirchenschiff! Abends leuchtet oben in dessen Fensterchen Licht, während unten getrunken wird. Dann fühlt sich das Bunk an wie eine belebte Piazza. Nur sehr niederländisch eben – und überdacht.
Wer hat hier Amsterdam gesagt?
Utrechts Nähe zur Nordsee ist zu spüren in wilden Wetterwechseln. Es kann passieren, dass man zwischen zwei Wolken läuft und dabei die fallenden Tropfen glitzern sieht, obwohl man selbst in diesem Moment im Trockenen ist – und in den Genuss eines riesigen Regenbogens kommt. Das ist aufregend und ziemlich romantisch – vorausgesetzt, man hat die richtigen, sprich: wetterfesten Outfits eingepackt.
Wahrscheinlich ist es eine Frechheit, nun beim Spaziergang entlang der Grachten mit Amsterdam zu kommen. Welche Stadt wird schon gerne mit seiner berühmten Nachbarin verglichen. Nur: Utrecht wirkt nicht so, als wären da Minderwertigkeitskomplexe. Sollen die Massen der (Party-)Touristen doch eine halbe Zugstunde weiter nördlich durch die Grachten ziehen. Diese Altstadt kultiviert ihren Charme.
Als wichtigste Uni-Stadt des Landes ist Utrecht gleichzeitig ehrwürdig und jung. In ruhigen Gassen huschen zwischen Giebelhäuschen wohlgenährte Katzen vorbei. Das Pflaster ist sauber. Auf dem samstäglichen Blumenmarkt verkaufen Bauern aus der Region Bouquets, Tulpenzwiebeln und Topfpflanzen (auch im Winter, wenngleich mit reduziertem Angebot). Buchläden zeigen ihre sorgsam kuratierte, mehrsprachige Auswahl in holzvertäfelten Schaufenstern.
Besonders hübsch bei Tag wie bei Nacht: die Werven, Utrechts Kai-Terrassen. Denn anders als in Amsterdam ist das Wasserlevel der Kanäle so tief, dass im Mittelalter eine zusätzliche Ebene unterhalb der Strassen gebaut wurde. Hochwasser gibt es nie, dank eines uralten Schleusensystems.
So können sich die Utrechter bis heute an der Wassernähe erfreuen. Hunderte einstige Kai-Keller wurden von simplen Lagerräumen längst umgewandelt – in Lokale, Boutiquen, Künstlerateliers. Vor manchen sitzen auf Acapulco-Sesseln auch Touristen, die in einem der renovierten Gewölbe übernachtet haben, ein besonderes Erlebnis.
Dafür, dass die Niederlande nicht für ihre Küche berühmt sind, lässt es sich auch hervorragend essen in Utrechts Altstadt. Da gibt es feine Spielereien wie die Kaasbar, in der Tellerchen am laufenden Band über die Theke rollen, wie man das von Sushirestaurants her kennt. Die Speisekarte dazu gleicht einer kleinen Wissenschaft mit Schärfegraden und Weintipps.
Labyrinth für Erwachsene: Augen auf und durch
Was sich in den Dutzenden Räumen und Gängen des Kunstlabyrinths «Doloris Anoma Maze» verbirgt, wäre ungefähr so, wie das Ende eines Films zu verraten. So viel kann aber gesagt werden: Zunächst müssen Handy, Armbanduhr und alles, was einen sonst an den Rhythmus der Welt bindet, am Eingang zur alten Industriehalle in einem Schliessfach verschwinden.
Eine Eintrittsmünze öffnet eine von vier bunten Türen. Hinein geht es allein, in Abständen, jeder soll die Fantasiewelt für sich ohne Ablenkung erkunden. Teils auf allen vieren, kletternd, rutschend, tastend, wie ein grosses Kind auf einem leicht gruseligen Spielplatz ohne Tageslicht, der hinter jeder Ecke Überraschungen und Rätsel bereithält.
«Ich bin gespannt, ob du meinen Raum findest und erkennst, gib danach unbedingt Bescheid!», hat Thomas Lievestro vor dem Selbstversuch im Doloris gesagt. Der «Experience Designer» gehört zu den Gestaltern des Labyrinths. Der 37-Jährige lebt in Amsterdam, ist aber sehr mit Utrecht verbunden und kommt jede Woche mal rüber, und sei es, um Ultimate Frisbee zu spielen. Er sei immer noch baff, hat Lievestro via Facetime erzählt, mit welchem Tempo Doloris im Frühjahr 2024 verwirklicht wurde – und begeistert vom Ergebnis. «Ich liebe es, Leute spielen zu lassen, ich will, dass sie für Neugier belohnt werden.»
In seinem Raum, so hat Lievestro angedeutet, habe er mit seiner Projektpartnerin bewusst einen Alltagsgegenstand ausgewählt, um diesen zum Leben zu erwecken. «Viele Leute fangen an zu tanzen, wenn sie verstehen, was sie damit anstellen können – vielleicht siehst du den Gegenstand danach draussen auch mit anderen Augen!»
Mit diesen Worten im Kopf fällt der Groschen drinnen im Labyrinth tatsächlich. Auch die anderen Menschen, die sich zufällig gleichzeitig im Raum wiederfinden, lächeln und experimentieren mit Lievestros Installation. Wann genau das passiert während des Besuchs: keine Ahnung. Das Zeitgefühl löst sich auf ohne ständigen Kontrollblick auf ein Display.
Seit der Eröffnung im Frühsommer 2024 war Doloris weitgehend ausgebucht, das Konzept Erwachsenenspielplatz geht auf. Wer schliesslich durch eine von zwei vergoldeten Türen den Ausgang genommen hat, findet sich in einer plüschigen Bar wieder, eine Art Schleuse zurück in die Aussenwelt. Es wird gekichert, erzählt, verglichen, die meist jungen Besucherinnen und Besucher wirken zufrieden nach ihren Offline-Irrwegen.
Auch ein paar Gehminuten weiter darf gespielt werden, auf dem Areal eines einstigen Zugdepots. Wie Doloris liegt der Pingpong Club in dieser etwas rauen Gegend im Nordwesten, dort bieten die Brachflächen Raum für Alternatives. In diesem Fall bergen die alten Fabrikhallen ein knallbuntes Lokal, das namensgebende Pingpong wird an Platten unter transparenten Plastik-Iglus gespielt, geschützt vor Zugluft.
Wer lieber sitzt, kann sich im Barbereich Brettspiele aus Regalen ziehen, zu essen gibts, was glücklich macht: knusprig-getoastete Brote mit schmelzendem Käse und Avocado oder herrlich scharfen Blumenkohl mit Wasabi-Mayonnaise zum Beispiel. Der Abstecher raus aus der Altstadt, er lohnt sich.
Kaffee im Kajak: Durch die Grachten
Zurück im Zentrum wartet ein Vergnügen an der frischen Luft. Noch mal die Wertsachen wegpacken, diesmal in einen wasserfesten Rucksack, den Raphaël Klijn schon bereithält. Den Schal festziehen, ins Kajak steigen und Klijn hinterherpaddeln. Der Guide kennt die schönsten Routen seiner Heimatstadt, zeigt, wie man durch Engstellen manövriert und erzählt dabei. Es ist die am meisten entschleunigte und schönste Art, die Stadt zu entdecken: vom Wasser aus.
Seit die leidige Mini-Autobahn 2020 geflutet wurde, ist der sechs Kilometer lange Gürtel entlang der historischen Stadtmauer wieder durchgängig für Boote, SUPs und Kajaks befahrbar, einmal geht es dafür sogar unter dem riesigen Einkaufszentrum Hoog Catharijne hindurch. Besonders idyllisch sind aber die beiden Grachten, die dazwischen das Zentrum von Norden nach Süden durchziehen: Die «alte», also Oudegracht, und die «neue», Nieuwegracht, wobei auch letztere ins 14. Jahrhundert zurückdatiert.
Nur ab und zu zieht ein kleines Ausflugsschiff vorbei oder andere Paddler kreuzen den Weg. Am Südrand der Altstadt fühlt es sich fast wie eine Landpartie an, so viele Bäume säumen die Grachten, so ruhig sind die Uferwege. Am oberen Ende der Nieuwegracht wiederum liegt das Universiteitskwartier, wobei nur wenige Fakultäten in der Altstadt verblieben sind, alle anderen sind in den modernen Science-Park gezogen. Utrecht als Studentenstadt, auch diese lange Tradition hat besondere Geschichten hervorgebracht.
Die von Anna Maria von Schürmann mag Klijn besonders gern. Sie wurde 1607 in Köln geboren, lernte schon als Mädchen zahlreiche Sprachen, darunter Hebräisch und Altäthiopisch, und galt bald als gebildetste Frau Europas. So kam es zur Sondergenehmigung, an der Universität Utrechts zu studieren – doch sie musste hinter einem Vorhang sitzen, unsichtbar bleiben für die Männer. Damals «Stern von Utrecht» genannt, sei sie doch auch hier weitgehend vergessen, erzählt Klijn, aber wer weiss, vielleicht komme die Wiederentdeckung ja noch.
Zwischendurch lenkt Klijn ans Ufer. Von der Terrasse eines kleinen Grachtencafés reicht die Kellnerin Paddlern dampfenden Kaffee oder Tee direkt zum Mitnehmen. So macht man Pause auf dem leicht schaukelnden Wasser, wärmt sich am Getränk und verschiebt ab und zu das Kajak ein bisschen, um die letzten Sonnenstrahlen zu erwischen. Auf den Brücken eilen ohne Unterlass Radler vorbei, vor den Wervenlokalen prosten sich Menschen in Feierabendstimmung zu. Lässt sich aushalten.
Nach ganz oben: Das aufpolierte Wahrzeichen
Na ja, ein Kirchturm halt, wäre man anderswo womöglich versucht zu sagen. Aber so pragmatisch die Utrechter die Westerkerk zum Event-Ort Bunk umgemodelt haben, so sehr hängen sie an ihrem grossen Wahrzeichen und machen sich auch dieses immer neu zu eigen.
Domtoren, der Domturm, war sieben Jahre lang unter Gerüsten verborgen, Ende September 2024 fielen alle Hüllen, und der rundum restaurierte Turm, immerhin der höchste Kirchturm der Niederlande, dominiert nun hell und nicht mehr schmutzig-dunkel die Stadt.
Um das zu feiern, passiert es zum Beispiel, dass ein Tattoostudio in die prächtigen Hallen eingeladen wird, um einen Tag lang bis tief in die Nacht die Domtoren-Silhouette auf Körper zu stechen. Der Andrang zu der Aktion im Frühherbst war so gross, dass gelost werden musste, erzählt Emma Meier, während sie die 465 Stufen hinaufführt. Auch Pop-up-Kino gebe es manchmal im Domtoren, alle möglichen Events, Konzerte, ein eigens gebrautes Bier.
Die Psychologiestudentin zeigt im Nebenjob Gästen den Turm und hat dabei solche und andere Anekdoten parat. Im zweiten Stock etwa: «Kannst du dir vorstellen, dass hier vom 15. Jahrhundert bis ins Jahr 1901 immer ein Turmwärter mit seiner Familie lebte, in einem Holzhäuschen, das in dieses Stockwerk hineingebaut war?» Damit nicht genug, diese Turmwärter betrieben dort auch nebenher eine Art Bar – trinken in Kirchen, nichts Neues also in Utrecht.
Die Glocken wiegen so viel wie 20 Nilpferde, erzählt Meier weiter oben und reicht einen Gummihammer. Einfach ausprobieren, wirklich? Meier nickt, und schon erklingt eine der Glocken warm und tief, der Hammer vibriert in der Hand nach. Beeindruckender als dieser Selbstversuch klingt für die Menschen unten in der Stadt das wöchentliche Konzert am Glockenspiel, jeweils am Samstagvormittag. «Unsere Musikerin nimmt auch Liedwünsche der Bevölkerung an», erzählt Meier, «oder spielt Tributes zum Beispiel für David Bowie. Sie kann machen, worauf sie Lust hat.»
Ein letztes Mal die Kräfte zusammennehmen auf der steilen, engen Wendeltreppe, dann endlich geht es hinaus auf die windumtoste Aussichtsplattform ganz oben.
Manche Spielerei Utrechts lässt sich erst von dort erkennen. Etwa die Bilder, Enigmas genannt, die vor Jahren vom Künstler Krijn de Koning so auf Strassen und Dächer gemalt wurden, dass sie vom Domtoren aus dreidimensional wirken – auf Meiers Fingerzeig hin sind sie gut zu sehen. Andere Künstler haben ein silbernes Ufo oder eine gigantische Teekanne auf Gebäude gesetzt. Wozu, würde man vielleicht anderswo fragen. Weil wir Lust darauf hatten, werden die Utrechter wohl antworten.
Die Recherchereise für diesen Artikel wurde zum Teil unterstützt von den erwähnten Veranstaltern, Hotels, Transportunternehmen und Tourismusagenturen.
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