Interview zu Handelsbeziehungen«Es ist etwas heikel, was ich jetzt sage, aber …»
Sein Vorgänger Martin Naville hat der Schweiz die Beziehung zu den USA erklärt, seit August ist Rahul Sahgal im Amt. Der neue Chef der Handelskammer sagt, was die Amerikaner von den Schweizern unterscheidet.
Am 5. November wählen die Bürgerinnen und Bürger der USA ein neues Staatsoberhaupt, und Rahul Sahgal wird die ganze Nacht hindurch Interviews geben. Als neuer CEO der schweizerisch-amerikanischen Handelskammer in Zürich ist er ein Experte für die Beziehungen der beiden Länder. Der 46-jährige Schweizer mit indischen Wurzeln, der sechs Sprachen spricht, hat als Diplomat in Washington hinter die Kulissen der Trump-Administration geschaut. Und findet: Der Präsident habe gar nicht so viel Macht, wie ihm bisweilen zugeschrieben werde.
Herr Sahgal, dass wir uns heute hier in Zürich gegenübersitzen, hat mit einem folgenreichen Entscheid Ihres Grossvaters zu tun, richtig?
Ja. Mein Grossvater kam im Indien der 50er- und 60er-Jahre zum Schluss, dass es dort für seine vier Söhne keine gute Zukunft geben würde. Er schickte sie dann in englische Internate. Und entschied für sie, in welchen Ländern sie welches Fach studieren sollen. Der älteste Sohn ging in die USA, um Arzt zu werden. Der zweitälteste studierte Recht in England. Der dritte war mein Vater, der an die ETH kam und Maschineningenieur wurde.
Und der vierte Sohn?
Den schickte er in die indische Armee.
Sie wuchsen in Zürich und in Baden auf.
Mein Vater arbeitete bei den Nordostschweizer Kraftwerken, der heutigen Axpo. Es war die Boomzeit der Nuklearenergie, er war zuständig für die Sicherheit der Kernanlagen.
Sie selbst studierten an der Hochschule St. Gallen, arbeiteten unter anderem in der Finanzbranche in der Schweiz – und gingen dann nach Indien.
Rieter fragte mich an, ob ich Interesse hätte, dort zu arbeiten …
… Sie meinen den Textilmaschinenkonzern aus Winterthur.
Genau. Ich bin indischen Ursprungs, lebte aber selbst nie in Indien, besuchte nur von Zeit zu Zeit meine Grosseltern in Delhi. Als Expat dort hinzugehen war ideal, um das Land kennen zu lernen. Später führte ich dort den indischen Ableger der Schweizer Firma Autoneum mit 160 Angestellten. Das war spannend, aber ich merkte auch, dass ich mich stärker für gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge interessierte. Und ich wollte zurück in die Schweiz.
Ihre Lösung war: Diplomat zu werden.
Als Präsident der indisch-schweizerischen Handelskammer in Delhi habe ich viel mit der Schweizer Botschaft zusammengearbeitet. Das reanimierte den schlummernden Wunsch in mir. Ich bewarb mich für den diplomatischen Concours, hatte ein völlig atypisches Profil – aber man wollte mich.
Als Jungdiplomat mussten Sie neu anfangen.
Vom Länderchef zum Praktikanten, mein Lohn halbierte sich. Aber ich war geistig vorbereitet, man fragte mich während der Bewerbung circa zehnmal, ob ich mir dessen wirklich bewusst sei. Ich sagte mir: Wenn ich in ein neues Metier einsteige, dann muss ich mich wieder hocharbeiten.
Sie arbeiteten genau in den Trump-Jahren in der Schweizer Botschaft in Washington, von 2017 bis 2021. Wie erlebten Sie die Trump-Administration aus der Nähe?
Es gab Phasen, in denen ich jeden Morgen aufstand, um zu prüfen: Was hat er Neues getwittert? Was bedeutet das? Und was wollen sie jetzt in Bern von uns wissen? Gleichzeitig hatten wir einen guten Zugang zur Administration, weil da viele Leute arbeiteten, die aus der Privatwirtschaft kamen. Die lebten einen gewissen Pragmatismus.
Haben Sie Beispiele für diesen Zugang?
Das Änderungsprotokoll zum Doppelbesteuerungsabkommen Schweiz - USA war im US-Senat blockiert. Für die Schweiz war das ein grosses Problem: ohne Protokoll keine Neuverhandlung des Abkommens. Ich habe das Problem angesprochen, und sie haben uns dabei unterstützt, das Thema zuerst auf die Agenda und dann durch den Senat zu bringen.
Wer sind «sie»?
Es gab zwei Personen: Der eine war ein Vize-Finanzminister. Den hatte ich früh kennen gelernt, weil wir bei einem Nachtessen der internationalen Bankers Association nebeneinandergesetzt worden waren. Die Organisatoren fanden, wir würden zusammenpassen, weil er einige Jahre für die Credit Suisse gearbeitet hatte. Und der andere war der Chefjurist des Finanzministeriums. Der fand ebenfalls: Das machen wir jetzt.
Wollen Sie damit sagen: Es ist gar nicht so wichtig, wer in Washington Präsident ist – entscheidend sind die Beziehungen zu den Fachleuten?
Beides ist wichtig, Fachebene und politische Ebene. Aber die beiden «Alliierten» waren weit oben in der Hierarchie. Sie hatten auch das politische Gewicht, das Anliegen voranzubringen.
Warum haben Sie die Diplomatie aufgegeben und zur Handelskammer gewechselt?
Ich war zehn Jahre in der Privatwirtschaft, dann zehn Jahre beim Bund. Was ich jetzt mache, ist die Kombination der beiden Bereiche. Ich habe noch zwanzig Jahre Arbeitsleben vor mir. Ich dachte mir: Wenn ich einen solchen Schritt mache, dann jetzt. Es war ein bisschen wie bei Goethes «Der Fischer»: Halb zog man mich, halb sank ich hin.
In einfachen Worten: Was ist Ihr Auftrag?
Nummer eins: alles dafür tun, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA gut funktionieren. Handelshemmnisse abbauen. Freihandel fördern. Nummer zwei: schauen, dass die Schweiz ein attraktiver Standort ist und bleibt.
Sie sind ein Lobbyist.
Für mich ist der Begriff überhaupt nicht negativ besetzt. Als Diplomat habe ich ja dasselbe gemacht: Ich habe die Interessen der Schweiz vertreten.
Sie übernehmen die Leitung der Handelskammer zu einer Zeit, in der die US-Präsidentschaftswahl alles dominiert. Ihre Position: Aus wirtschaftlicher Sicht kanns die Schweiz mit beiden, mit Kamala Harris und mit Donald Trump. Können Sie das erklären?
In den letzten 30 Jahren haben wir 18 Jahre demokratische und 12 Jahre republikanische Präsidentschaft gehabt. Die Exporte der Schweiz sind in diesen Jahren immer gewachsen, und US-Investitionen in die Schweiz sind ebenso gewachsen. Hinzu kommt, dass man in den USA ein System mit Gewaltenteilung hat, das nach wie vor funktioniert. Der Präsident hat Macht, kann aber vieles nicht allein entscheiden.
Was heisst das konkret?
Wenn Demokratin Kamala Harris die Unternehmenssteuern von 21 auf 28 Prozent erhöhen möchte, braucht sie das Parlament dazu. Und der Senat wird nach aktuellen Prognosen republikanisch werden. Sie kann das also nicht ohne weiteres durchziehen. Und dann kommen noch die Bundesstaaten ins Spiel.
Auch da: ein Beispiel, bitte.
Nehmen Sie Texas. Erzkonservativ bei gewissen Themen. Richtig schwierig, wenns zum Beispiel um Abtreibung geht. Aber schauen Sie mal, was Texas in Sonnen- und Windenergie investiert hat. Das ist unglaublich. Wir Europäer verstehen das überhaupt nicht …
… weil es für uns nicht zusammenpasst?
Genau. Oder nehmen Sie den Bundesstaat Georgia. In der Hauptstadt Atlanta habe ich sehr viele elektrische Autos auf den Strassen gesehen. Als ich die Leute vom Büro des republikanischen Gouverneurs nach den Gründen gefragt habe, kam die Antwort: Wir haben mehr oder weniger die Elektroauto-Fördergesetze von Norwegen kopiert. Manchmal funktionieren die Dinge anders als erwartet.
Wir verstehen nicht, weshalb Sie eine zweite Trump-Präsidentschaft so entspannt sehen. Der Ex-Präsident ist vor allem eines: unberechenbar. Und die Wirtschaft will planen können.
Einverstanden, Unsicherheit ist ein Problem. Wir haben aber mit der Zeit gelernt, zu unterscheiden, was leere Rhetorik ist und was wirklich umgesetzt wird. Trumps Berater haben uns manchmal ganz direkt gesagt: Die Tweets sind PR, nun erklären wir euch, wie es wirklich läuft.
Spätestens der Sturm aufs Capitol am 6. Januar 2021 hat gezeigt, dass Trump ein Autokrat ist. Die von Ihnen gelobten Institutionen stehen unter Stress. Auch das ist nicht gut für die Wirtschaft.
Trump hetzte die Menschen auf, kein Zweifel, das kann niemand gut finden. Die Frage wird auch bei ihm sein: Was könnte er überhaupt tun, sollte er wieder an die Macht kommen? Es wird im Kongress knappe Mehrheiten geben. Da wird sich nur wenig umsetzen lassen. Ich glaube an die Kraft der Institutionen, ich glaube an das System.
Das ist eine riskante Position.
Denken Sie an den historischen Kontext. Die USA standen bis zurück in die 60er-Jahre mehrfach kurz vor einem Bürgerkrieg, es gab auch immer wieder schwere Gewaltausbrüche. Man glaubte auch immer wieder: Das wird jetzt die wichtigste Wahl der Geschichte. Das Jahr 2024 ist so gesehen kein Ausreisser.
Was zeichnet in Ihren Augen die Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA aus?
Schweizer Firmen haben sehr früh in den USA Tochterfirmen und bis heute enormes Wissen aufgebaut. Die USA sind zwar in den letzten Jahren protektionistischer geworden. Aber wir reden nach wie vor vom grössten Binnenmarkt der Welt. Nirgendwohin exportieren wir mehr. Und wenn man als Schweizer Firma in den USA produziert, wird man als amerikanisch angeschaut. Wenn es heisst «Buy American!», also «Kauf amerikanisch!», sind Schweizer Firmen mitgemeint, die ihre Produktion dort haben.
Wo sehen Sie die grössten Unterschiede zwischen den beiden Wirtschaftsräumen?
Wir sind auf Stabilität und Langfristigkeit ausgerichtet. Die USA sind viel mehr «trial and error». Fehler werden schneller verziehen, man denkt aber auch kurzfristiger. Wir Schweizer stecken enorme Summen in den Unterhalt unseres Bahn- und Strassennetzes. Die Amerikaner denken eher: Wir bauen jetzt einen Flughafen. Der muss 20 Jahre funktionieren. Und danach renovieren wir – oder bauen einen neuen.
Und das Bild von der Schweiz, die Misserfolge nicht verzeiht, stimmt noch immer?
Ich fürchte ja. Sie kommen hier auch viel schwieriger an Risikokapital.
Was sind die grössten kulturellen Unterschiede?
Es ist etwas heikel, was ich jetzt sage. Aber in den USA ist Arbeit positiver konnotiert. Ich denke, dass Amerikanerinnen und Amerikaner viel stärker das Verständnis haben, zu arbeiten, um überleben zu können. Es ist diese Jäger-und-Sammler-Mentalität, die immer noch sehr stark ist. Die eigene Haltung basiert weniger auf Ansprüchen an die Gesellschaft. Ein Beispiel: Unsere Nachbarn im Quartier, in dem wir in Washington wohnten, haben alle voll gearbeitet. Niemand Teilzeit. Auch die Frauen nicht. Die Kinder waren tagsüber in der Krippe, und am Wochenende war man als Familie zusammen.
Welche der beiden Denkwelten ist Ihnen näher?
Ich denke, dass wir in Europa nicht längerfristig eine Gesellschaft haben können, in der es so attraktiv ist, nicht zu arbeiten. Wir werden langfristig gegen die anderen Kontinente verlieren.
Eine kontroverse Aussage.
Ich weiss.
Als stolze Europäer halten wir dagegen: Wir lassen manche Dinge einfach nicht zu. Wir halten einen menschenwürdigen Mindeststandard, im Schulsystem, in der Gesundheit, in der Arbeitswelt.
Ich bin teilweise einverstanden. Wir haben Errungenschaften in Europa, die den USA guttun würden. Interessanterweise hat die Schweiz in vielen Bereichen einen guten Mittelweg gefunden. Zum Beispiel beim berühmten «hire and fire»: In der Schweiz geniessen Sie einen gewissen Kündigungsschutz, aber es ist trotzdem möglich, sich von einem Arbeitnehmer zu trennen – oder eine Fabrik zu schliessen, wenn diese nicht mehr erfolgreich ist. Das muss drinliegen.
Ist es auch Ihre Aufgabe, als kultureller Brückenbauer zu agieren?
Ja. Ich hatte zum Beispiel früher oft das Gefühl, dass Amerikaner unterschätzt werden, weil sie informeller auftreten, zum Beispiel keinen Anzug tragen. Das ändert sich langsam, auch in Zürich wird man informeller. Und: Amerikaner können sehr freundlich sein, aber ganz klar anderer Meinung. Bei uns ist das Persönliche viel enger mit dem Inhaltlichen verknüpft. Wir Schweizer drucksen schnell herum. Amerikaner sind da schmerzfreier, bleiben aber trotzdem sehr höflich.
Und wie ist es in der Arbeitswelt?
In der Schweiz ist Perfektionismus wichtig. In den USA sagt man: Done is better than perfect. Gleichzeitig schätzen die Amerikaner diesen Schweizer Charakterzug. Sie wissen: Wenn man drei Monate zuvor einen Termin abgemacht hat, um 9 Uhr morgens in Zürich, dann wird diese Person dann dortstehen.
Aber?
Nichts – das ist gut! Manchmal passt es halt nicht zur Realität. Ein Beispiel: Ein Schweizer Bundesrat macht im November seinen Plan fürs nächste Jahr und lässt in Washington anfragen, ob er den US-Finanzminister am 12. September treffen könnte. Da wird keine Antwort kommen, weil der Minister nicht weiss, was er an diesem Tag tut. Die Antwort seines Stabs wird sein: Frag doch im Juni wieder. Dann fragt man im Juni wieder – der Bundesrat ist inzwischen schon ganz nervös, ob er im September nach Washington gehen wird. Irgendwann heisst es dann vielleicht vom Stab: sorry, keine Zeit.
Leiden wir Schweizer unter Planungswahn?
Es funktioniert in vielen Ländern einfach anders. Wenn Sie nach Indien oder in die USA reisen und wichtig genug sind, dann können Sie mit drei Tagen Vorlauf die CEOs der wichtigen Firmen treffen. Dann werden halt Termine verschoben. In der Schweiz priorisieren wir viel weniger nach Hierarchie. Dafür sind unsere Abmachungen verbindlicher.
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