Zweiter Grand-Slam-TitelAls alles vorbei ist, zeigt Roboter Jannik Sinner menschliche Züge
Dopingspuk, Pöbeleien und US-Gegner – doch der Italiener bleibt am US Open ganz cool und schlägt Taylor Fritz im Final souverän. Noch hängen aber dunkle Wolken über ihm.
Manchmal hatte man am US Open den Eindruck, Jannik Sinner sei ein Roboter. Ohne eine Miene zu verziehen und mit mechanischer Stimme beantwortete er alle Fragen über seine positiven Dopingproben vom März, die in der Woche zuvor bekanntgeworden waren. Auch auf dem Court zeigte er keinerlei Emotionen.
Erst, als er das Turnier gewonnen hatte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Dann kletterte er hoch auf die Tribüne und herzte sein Team, das ihn in diesen turbulenten Zeiten so sehr unterstützt hatte. Als er seine Freundin Anna Kalinskaja umarmte wie einen Kumpel, rückte diese seinen Kopf mit ihrer rechten Hand zurecht und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. So viel Intimität musste sein.
Wahrscheinlich wird bei Sinner bald einmal der Moment kommen, in dem er alles reflektieren wird, was in den letzten Wochen und Monaten passiert ist. Aber in Flushing Meadows blieb für den 23-Jährigen keine Zeit dafür. Er zwang sich dazu, die vielen Störfaktoren nicht an sich herankommen zu lassen.
Nick Kyrgios pöbelte als ESPN-Kommentator gegen ihn. Er zuckte mit den Schultern und sagte, jeder dürfe äussern, was er wolle. Novak Djokovic und Roger Federer fanden, er sei bevorzugt behandelt worden nach seinen positiven Dopingproben. Auch das konnte ihn nicht destabilisieren.
Auch Taylor Swift und Elon Musk schauten zu
Und auf dem Court spielte er gegen einen Amerikaner nach dem anderen – gegen insgesamt deren vier. Im Achtelfinal schlug er Tommy Paul (ATP 14) souverän, im Endspiel ebenso Taylor Fritz (12). Nach dem Final bedankte er sich bei den US-Fans für ihre Fairness. Dabei hatten diese zuweilen applaudiert, nachdem er seinen ersten Aufschlag verschlagen hatte.
Doch Sinner spielte weiter wie ein Roboter. Wie ein äusserst flinker, schnellkräftiger Roboter. So hart Fritz auf den Ball einschlug, er fand kein Rezept, um ihn aus der Balance zu bringen. Nach 2 Stunden und 16 Minuten war der Spuk vorbei, hatte Sinner vor den Augen zahlreicher Promis wie Sängerin Taylor Swift und Tesla-Gründer Elon Musk 6:3, 6:4, 7:5 gewonnen.
Die Siegertrophäe erhielt Sinner aus den Händen des zweifachen US-Open-Champions Andre Agassi (1994, 99). So hatte es sich der 54-Jährige wohl nicht vorgestellt, als er zugesagt hatte für die Zeremonie. Jetzt sei die Zeit gekommen, dass wieder einmal ein Amerikaner gewinne, hatte Agassi vor dem Turnier gesagt. Immerhin kam Fritz als erster männlicher US-Spieler seit 15 Jahren wieder einmal in einen Grand-Slam-Final. Damals hatte Andy Roddick, 2003 der letzte US-Champion, in Wimbledon gegen Roger Federer verloren.
Fritz: «Sorry, dass ich es nicht geschafft habe»
«Ich weiss, wir warten schon lange auf den nächsten amerikanischen Champion», sagte Fritz bei der Siegerehrung. «Sorry, dass ich es diesmal nicht geschafft habe. Aber ich arbeite weiter, und hoffentlich klappt es das nächste Mal.»
Fritz ist ein Spätzünder. Lebte er lange primär von seinem Aufschlag, hat er sich zum kompletten Spieler und zum Athleten entwickelt. Mit 26 spielt er so gut wie noch nie. Am US Open steigerte er sich zeitweise in einen Spielrausch. Auch gegen Sinner hatte er seine guten Momente, doch in den entscheidenden Phasen schwächelte er.
Das Verblüffende ist: Sinner musste nicht einmal überragend spielen, um in drei Sätzen zu gewinnen. Ab dem zweiten Satz liess ihn der Aufschlag zusehends im Stich, doch von der Grundlinie ist er dank seiner Explosivität und Beweglichkeit stabiler als alle anderen. Nur Carlos Alcaraz kann ihn mit seinem variablen Spiel aus der Reserve locken.
Doch in New York scheiterte der Spanier früh, mental ausgelaugt nach einem Sommer voller sportlicher Highlights. Sinner und Alcaraz teilten sich die vier Grand-Slam-Titel des Jahres brüderlich auf. Wir sind nun definitiv in ihrer Ära angekommen.
Erstmals seit 1993 wurden alle Major-Titel von Spielern im Alter von 23 oder jünger gewonnen. Damals hatten das Jim Courier, Sergi Bruguera und zweimal Pete Sampras geschafft. Bei Alcaraz und Sinner hat man nicht das Gefühl, dass sie ihr Potenzial schon ausgeschöpft haben. Der Italiener sagte denn auch: «Die Arbeit geht nie aus. Ich kann mich immer noch verbessern, wie man auch heute gesehen hat. Ich kann es kaum erwarten, diesen Prozess fortzuführen.»
Ein bisschen emotional wurde der 23-Jährige an der Siegerzeremonie dann doch noch. «Dieser Titel bedeutet mir so viel. Denn die letzte Zeit war nicht einfach», sagte er und deutete die Diskussionen um seine positiven Dopingproben an. «Ich begriff, wie wichtig der mentale Aspekt ist.»
Er widmete den Titel seiner Tante, der es gesundheitlich nicht gut geht. «Ich weiss nicht, wie lange ich sie noch in meinem Leben haben werde. Sie ist ein sehr wichtiger Mensch für mich. Mein grösster Wunsch wäre es, dass alle gesund sein könnten. Leider ist das nicht möglich.»
Die Wada könnte seinen Fall neu aufrollen
Von Sinner dürfte nach diesem Triumph eine grosse Last abfallen. Doch noch ist die Affäre um seine positiven Dopingtests nicht ausgestanden. Die Welt-Antidoping-Agentur (Wada) kann noch bis am Montag um Mitternacht gegen die Entscheidung der International Tennis Integrity Agency, ihn nicht zu sperren, Berufung beim Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne (CAS) einlegen.
Dann würde der Fall in die nächste Runde gehen. Und das Tennis, das in Jannik Sinner in diesem Jahr einen neuen Champion gefunden hat, stünde vor einem Scherbenhaufen.
Es geht los!
Sinner hat beim Münzwürf gewonnen und wählte Rückschlag. Er will also mal sehen, wie nervös Fritz bei seinem ersten Grand-Slam-Final ist.
Taylor Swift ist auch da
Auch Popstar Taylor Swift, die diesen Sommer in Zürich für Begeisterung sorgte, lässt sich das grosse Duell auch nicht entgehen. Ihr Partner, der Football-Spieler Travis Kelce, ist auch da. So lässt sich ein Sonntagnachmittag doch verbringen.
Willkommen zum US-Open-Final!
Willkommen zum Liveticker vom US-Open-Final in New York. Hier werden Sie sich in den nächsten Stunden prächtig unterhalten. In Flushing Meadows wird der letzte Grand-Slam-Titel des Jahres ausgespielt, und die US-Tennisfans schauen gebannt zu: Taylor Fritz würde gerne als erster Amerikaner seit 21 Jahren einen Grand-Slam-Triumph feiern. 2003 schlug Andy Roddick im Final des US Open den Spanier Juan Carlos Ferrero, ehe Roger Federer so richtig zu dominieren begann.
Fritz überstand in New York erstmals einen Grand-Slam-Viertelfinal und schlug im Halbfinal seinen Landsmann Frances Tiafoe. Er steigt gegen Sinner, der zu Beginn des Jahres das Australian Open gewann, als Aussenseiter ins Spiel und wird die Unterstützung des Publikums brauchen. Der Südtiroler zeigte sich am US Open unbeeindruckt von den Doping-Diskussionen um ihn: Im März wurde er zweimal positiv getestet, aber nicht gesperrt, weil ein unabhängiges Schiedsgericht befand, es sei eine unabsichtliche Kontamination gewesen, bei der ihn keine Schuld treffe.
Die beiden spielten erst zweimal gegeneinander, jeder gewann ein Duell. Das jüngste entschied Sinner 2023 in Indian Wells im Viertelfinal hauchdünn für sich. Doch seitdem hat er sich in allen Belangen weiterentwickelt. Doch auch Fritz zeigte in New York ungeahnte Qualitäten, vor allem punkto Solidität in den Grundlinienduellen. Man darf gespannt sein.
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