Misere des Schweizer Tennis«Es wird wieder einen wie Federer geben, aber der ist wohl kein Schweizer»
Kein Sieg am US Open, das schlechteste Grand-Slam-Jahr seit 1986 – das Schweizer Tennis kränkelt. Das sind die Gründe, und darum wird es bald wieder besser. Auch dank Belinda Bencic.
Es gab Zeiten, da begann ein Grand-Slam-Turnier aus Schweizer Sicht erst in der zweiten Runde so richtig. Am US Open war es für die helvetische Delegation – Viktorija Golubic, Dominic Stricker und Stan Wawrinka – im Einzel nach zwei Tagen vorbei. Erstmals seit dem US Open 2020 gab es keinen Schweizer Sieg bei einem Grand Slam.
Damals verzichteten Belinda Bencic und Wawrinka wegen Corona auf eine Teilnahme. Zuvor waren letztmals in Wimbledon 1995 alle Schweizerinnen und Schweizer an einem Grand Slam gleich in der Startrunde gescheitert: Martina Hingis, Marc Rosset und Jakob Hlasek. Das US Open ist keine Momentaufnahme: 2024 gab es nur fünf Schweizer Siege im Hauptfeld von Grand Slams, erstmals seit 1986 kam niemand über die dritte Runde hinaus.
Schielen zum Nachbarn Italien
«Ich kann es nicht schönreden», sagt Alessandro Greco, Leiter Spitzensport bei Swiss Tennis. «Und natürlich beschäftigt es mich, wenn ich das US Open schaue und keine Schweizer dabei sind.» Während Jahren studierten andere Nationen das Schweizer Tenniswunder, nun schielt man in der Schweiz neidisch auf andere Länder. «In Italien gibt es einen Riesenhype ums Tennis», sagt Greco. «Ich habe gelesen, dass sich seit dem Australian-Open-Sieg von Jannik Sinner 800’000 neu lizenzieren liessen. Alle wollen da Tennis spielen.»
Greco verweist aber auch darauf, dass Italien über 40 Jahre auf seinen nächsten Grand-Slam-Sieger bei den Männern warten musste: seit Adriano Panatta am French Open 1976. Und dass sich da die massiven Investitionen ins Tennis erst allmählich auszahlten: «Seit 20 Jahren gibt es in Italien fast jede Woche irgendwo ein Challenger-Turnier. Doch es brauchte seine Zeit, bis das Resultate brachte.» Zurzeit hat Italien bei den Männern sieben Spieler in den Top 50, bei den Frauen hat Jasmine Paolini mit 28 die grossen Tennisbühnen gestürmt und zuletzt zwei Grand-Slam-Finals bestritten.
Was Greco mit seinem Verweis auf seine zweite Heimat sagen möchte: Es braucht Geduld. «Wir haben sieben Spieler und acht Spielerinnen in den Top 300», rechnet er vor. «In der Breite sind wir so gut aufgestellt wie noch nie. Was uns momentan fehlt, ist die Spitze. Auch bedingt durch die Mutterschaftspause von Belinda Bencic.» Greco ist überzeugt, dass Dominic Stricker, Leandro Riedi und Jérôme Kym alle das Potenzial haben, dereinst in den Top 50 mitzuspielen. Die grosse Frage ist: Wann? Stricker und Riedi sind 22, Kym ist 21.
Es braucht auch ein bisschen Glück
Heinz Günthardt, ein Mann mit grosser Expertise, teilt die Einschätzung Grecos. «Stricker hat im letzten Jahr ja schon gezeigt, dass er selbst an Grand Slams Weltklassespieler schlagen kann. Und Riedi und Kym sind auf einem ähnlichen Level. Aber manchmal braucht es auch etwas Glück.» Stricker musste 2023 am US Open in der Qualifikation einen Matchball abwehren, ehe er im Hauptfeld bis in den Achtelfinal stürmte, Kym verpasste die Qualifikation diesmal nur um zwei Punkte. «Wer weiss, was passiert wäre, hätte er damals seinen Aufschlag durchgebracht», sagt Günthardt.
Der Berater von Swiss Tennis und Captain des Billie-Jean-King-Cup-Teams stand den Schweizer Spielerinnen und Spielern in New York beratend zur Seite – auch in der Qualifikation. Stricker, Riedi und Kym seien punkto Leistungsentwicklung alle auf Kurs, glaubt der Ex-Experte von SRF. Im Schnitt schaffen es die besten Junioren mit 23 in die Top 100.
Was Günthardt aber Sorgen bereitet, ist, wie oft die jungen Schweizer in den letzten Jahren verletzt waren. Stricker fiel wegen Rückenproblemen sechs Monate aus. Kym verpasste 2023 wegen einer Knie-OP die zweite Jahreshälfte. Riedi musste zuletzt wegen seiner chronischen Knieprobleme zweimal aufgeben. Der Genfer Kilian Feldbausch (18) liess sich in diesem April einer präventiven Hüftoperation unterziehen.
Woher kommt diese Häufung von Verletzungen? Beni Linder, Athletikcoach bei Swiss Tennis, sagt: «Wir machen uns tagtäglich Gedanken über die ideale Mischung von Matchs, Trainings und Erholung. Die Belastung ist im Tennis schon in jungen Jahren enorm. Aber der Körper ist in dieser Phase noch nicht so stabil. Die Knochen verdichten sich erst mit 20.» Doch wenn man den Spielerinnen und Spielern zu Pausen rate, klinge das für sie nicht attraktiv. «Denn das System gibt vor, dass du die ganze Zeit Punkte sammeln und verteidigen musst.»
Die Steuerung der Belastung als Schlüssel
Für Linder ist die Planung von Roger Federer, der immer wieder längere Trainings- und Erholungsphasen einschob, beispielhaft. Federer konnte sich das leisten, da er schon früh sehr erfolgreich spielte. Die aktuellen Jungen hingegen jagen fieberhaft nach Punkten, um die Mauer der Top 100 zu durchbrechen. Aber gerade bei Riedi habe man in diesem Jahr sehr bewusst darauf geachtet, Pausen einzubauen. Trotzdem wurde er jüngst wieder von seinen Knieproblemen eingeholt. Aber auch Stars wie Alcaraz oder Sinner würden immer wieder mit Verletzungsproblemen kämpfen, so Linder.
Für Günthardt ist klar: Nur, wenn die Jungen länger verletzungsfrei durchspielen können, können sie sich in den Top 100 etablieren. Bei Stricker sieht man nun, wie schnell man in einen Teufelskreis gerät. Dem gängigen Vorwurf, der junge Berner sei nicht fit, entgegnet Günthardt: «Stricker ist ein viel besserer Athlet, als man sich vorstellen kann. Der hat Bärenkräfte. Und wie gut sich jemand bewegt, hat auch viel mit dem Selbstvertrauen zu tun. Stricker ist momentan viel zu sehr mit sich beschäftigt. Er spielt nicht Tennis, er arbeitet es. Das ist sehr mühsam und braucht viel Energie.»
Zu wenige Mädchen spielen Tennis
Wie Stricker kämpft derzeit auch die 19-jährige Céline Naef mit sich. Hatte sich die Zürcherin 2023 bis zum Sprung in die Top 100 gespielt, wirkt sie momentan orientierungslos. Weg ist die Unbeschwertheit des letzten Jahres. Anders als bei den Männern, wo Swiss Tennis mit Henry Bernet (17), Flynn Thomas und Nikola Djosic (beide 16) drei vielversprechende Junioren hat, sind bei den Frauen derzeit keine Juniorinnen mit Potenzial für eine gute internationale Karriere in Sicht. Greco sagt: «Wir haben grundsätzlich zu wenig Mädchen, die Tennis spielen. Dieses Problem teilen wir mit vielen anderen Ländern. Die Ausnahme bildet Tschechien, wo Tennis bei den Frauen ein Volkssport ist.»
Swiss Tennis könne keine Champions produzieren, sagt Greco. Es könne nur die bestmöglichen Voraussetzungen schaffen. «Wir fördern den Sport in der Breite und versuchen, alle Spielerinnen und Spieler mit Potenzial für eine Karriere individuell zu unterstützen. Der eine braucht Geld, die andere einen Konditionstrainer, der Dritte etwas anderes.» Nicht immer ist die Zusammenarbeit einfach, wie der Fall des aufbrausenden Flynn Thomas zeigt. Dieser überstand in der Qualifikation fürs Juniorenturnier des US Open gerade die erste Runde.
Kommt der nächste Federer aus China?
Als Nachwuchsverband habe Swiss Tennis in den letzten zehn Jahren eine sehr gute Generation aufgebaut, sagt Greco. «Dass sie alle Federers würden, hat nie jemand behauptet. Es wird wahrscheinlich wieder einen wie Federer geben. Aber der ist wohl kein Schweizer. Wahrscheinlich ist es auch kein Serbe. Vielleicht ist es Alcaraz, vielleicht wird es ein Chinese sein, vielleicht ein Amerikaner.»
Fürs Erste schaut die Schweiz also zu, wenn die grossen Titel im Welttennis ausgespielt werden. Aber Hoffnung ist in Sicht. Dem Vernehmen nach trainiert Belinda Bencic nach ihrer Mutterpause wieder fleissig. Die Chancen stehen gut, dass man sie am Australian Open 2025 wieder zurück im Tennis erleben wird. Und mit 27 ist die junge Mutter in einem guten Alter für einen zweiten Frühling.
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