Unwetter in SpanienIn Utiel, Valencia, wurde aus einem Rinnsal eine Sintflut
Rio Magro heisst der Fluss, der durch die Provinzstadt führt. Am Mittwochmorgen trat er über die Ufermauern und riss alles mit: Autos, Laternen, Bäume, Menschen.
- Der Jahrhundertregen in Utiel führte zu verheerenden Überschwemmungen und Zerstörungen.
- Der Fluss Rio Magro verwandelte sich in eine reissende Flutwelle.
- Mindestens 155 Menschen starben in der Katastrophenregion an der Mittelmeerküste.
- Bürgermeister Gabaldón organisierte Schweigeminuten zu Ehren der Verstorbenen.
Bei Kilometer 171 ist Ende. Das Ende der Autobahn A3, die von Madrid nach Valencia führt, eine der Hauptverkehrsadern Spaniens, normalerweise. An diesem Abend führt sie nirgendwohin. Die Polizei hat die Strasse abgesperrt.
Auf der Landstrasse N3 geht es am Abend der Katastrophe noch einige Dutzend Kilometer weiter, hinein in die Region Valencia, durch eine Szenerie, die an Endzeitfilme erinnert. Fast kein Auto ist mehr unterwegs, lediglich ein Konvoi Feuerwehrwagen aus Madrid zieht vorbei. Richtung Valencia.
Hunderte Lastwagen parkieren im Zwielicht auf beiden Seiten. Eine Fernfahrerkneipe ist in Betrieb, auch ein Puff namens Playboy. An einer Tankstelle ist ein Viehtransporter abgestellt, aus dem die Tiere brüllen.
Zwei Badewannen Wasser pro Quadratmeter
Hinter Orten wie Castillejo de Iniesta, Graja de Iniesta und Minglanilla beginnt eine der beliebtesten Weinbauregionen Spaniens. In ihrem Zentrum liegt Utiel. Utiel ist einer der Orte, die der Jahrhundertregen am Mittwochmorgen mit voller Wucht erwischt hat.
Rio Magro heisst der Fluss, der durch Utiel führt. Ein Rinnsal sei er normalerweise, sagen sie hier. Am Mittwochmorgen gingen binnen weniger Stunden 275 Liter Wasser pro Quadratmeter über Utiel nieder, zwei Badewannen auf jedem Quadratmeter. Der Rio Magro schwoll zu einer Sintflut an, trat über seine Ufermauern, begann alles mitzureissen, Autos, Laternen, Bäume und auch sechs Menschen.
Die Calle Héroes del Tollo führt über den Fluss. Knöcheltiefer brauner Schlamm klebt auf ihrem Asphalt, auf den Trottoirs, an den Hauswänden. An jenen, die noch stehen. Mehrere Fassaden sind aufgerissen, davor türmen sich deformierte Autos, umgestürzte Laternen, Strassenschilder, Glascontainer – und überall haufenweise aufgetürmter Hausrat. Im Halbdunkel der Strasse, die hinauf zum Kirchplatz führt, liegt neben der zerbrochenen Schaufensterscheibe der Apotheke eine Schaufensterpuppe. Ihr erhobener Arm scheint eine Mahnung auszusprechen.
Lediglich eine Kerze beleuchtet eine Wohnung im ersten Stock der Calle Héroes del Tollo. Das einzige elektrische Licht im Viertel hier unten am Fluss stammt von den Scheinwerfern der TV-Teams, die für die Abendsendungen noch Aufsager machen.
Das Buchungsportal Booking.com hat sämtliche Zimmer der Region aus dem System gestrichen. Jedes Bett wird gebraucht, für Helferinnen und Helfer, die teils von weit angereist sind, und für jene, die obdachlos geworden sind. Im einzigen Hotel in Utiel campieren Menschen in der Lobby. Davor sitzen erschöpfte Feuerwehr- und Zivilschutzleute an Campingtischen.
Der Schlamm klebt an der Kleidung
Auch eine halbe Autostunde entfernt, in einem Fernfahrerrestaurant an der Landstrasse N3, stehen sie an der Bar, die Leute, die seit den Morgenstunden in Utiel gegen die Apokalypse gekämpft haben. Man erkennt sie sofort, am krustigen Schlamm, der ihnen bis zur Brust an der Kleidung klebt. Daneben fragt ein älteres Ehepaar aus Frankreich verzweifelt nach einem Zimmer – und einer Landkarte.
Sie hätten Ferien in Andalusien gemacht, erzählen die Eheleute Merlin aus Lyon. Dann auf der Rückreise seien sie vor Valencia gestrandet. «Lauter Strassen, die blockiert waren», sagen sie, «wir dachten zuerst, es gäbe eine Demonstration.» Wie sie es bis hier geschafft haben, wissen sie nicht, nur dass die Irrfahrt vom 90 Kilometer entfernten Valencia zwölf Stunden gedauert hat.
Nur Kräuterschnaps hilft noch
Einer der schlammverkrusteten Arbeiter, die ihre Erlebnisse des Tages mit Kräuterschnaps wegtrinken, erzählt, wie er den ganzen Tag über Pumpen betrieben hat, «das kann ich», sagt Esteban Valiente, der normalerweise eine Autowerkstatt betreibt und an diesem Abend einen Overall des Zivilschutzes trägt. «Man muss aufpassen, dass keine Luft hineinkommt.» Wo er als Freiwilliger gearbeitet hat? Er holt mit einer ölverschmutzten Hand aus. «In Mira», sagt er und senkt den Kopf. «Total zerstört», murmelt er. Dann kommen ihm kurz die Tränen. «Ihr müsst es sehen», sagt er und erklärt, wie man die Strassensperren umgeht, um nach Mira zu gelangen.
Über der hügeligen Landstrasse, die in den Ort am Südrand der Provinz Cuenca führt, scheint am Donnerstagmorgen die Sonne, als hätte es den Mittwoch nie gegeben. Doch die dortigen Weinreben stehen teils tief im Wasser. Am Ortseingang winkt die Guardia civil jedes Auto zur Seite. Die Strassen im Ort sollen freigehalten werden für Bagger und Dutzende Kleintransporter. Auch Weinbauern aus der Umgebung sind mit Traktoren und Anhängern gekommen. Und sie fahren tonnenweise Hausrat aus dem Ort.
«Ich brauche keine Fragen, ich brauche Hilfe»
Ojos de Moya heisst das Flüsschen, das durch den 900-Einwohner-Ort Mira führt. Der Kinderspielplatz zwischen ein paar Bäumen ist komplett unter Wasser. Niemand kann sich erinnern, dass das je zuvor passiert sei. «Ich brauche keine Fragen, ich brauche Hilfe», sagt eine Frau, die mit einer Schaufel den Schlamm aus ihrer Eingangstür schaufelt. Weiter unten am Fluss, wo das Wasser die Häuser bis in den ersten Stock hinauf verwüstet hat, deutet der 83-jährige Vicente Pardo in seine Garage. Alles hier sei so beschaulich gewesen, erzählt er, das Flüsschen Rio Magro führt normalerweise vorbei an einer Promenade und einem kleinen Park mit Spielplatz.
Von dem Spielplatz ragen nur noch einige bunte Stangen aus dem Wasser. Dabei ist der Pegel am Donnerstagmorgen mindestens vier Meter niedriger als in der Nacht der Katastrophe. Einige der Häuser am Fluss sind komplett verschwunden. In den Fenstergittern der anderen hat sich Treibgut verfangen, wie im Fangnetz eines Stauwehrs. Auf der Promenade sind sämtliche Kanaldeckel aus ihren Schächten verschwunden. Eine stählerne Fussgängerbrücke liegt kopfüber in dem noch immer reissenden Fluss. Um ein Haus hat sich das Blech eines Schuppens gewickelt. Der Geruch von Benzin und Öl liegt in der Luft. Kein Wunder, dutzendweise Autos sind mit der Flut davongeschwemmt worden. Einige liegen noch wie Findlinge in den Feldern unterhalb des Ortes. Ein Tornado könnte nicht mehr Zerstörung anrichten.
In den Seitenstrassen liegen bizarre Gegenstände im Schlamm, Laternenpfähle, Strassenschilder, ein Billardtisch, ein Weinfass in Barrique-Grösse. Auch hier ist das ebenerdige Polizeihauptquartier komplett überschwemmt worden. Dass am Mittwoch in Mira nur eine ältere Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden wurde und nicht mehr Menschen starben, ist fast erstaunlich. Mindestens 14 Bewohner seien mit Helikoptern geborgen worden, erzählt ein Zivilgardist.
Das etwa 30 Kilometer entfernte Utiel hatte weniger Glück. Dort starben sechs Menschen in den Fluten. In der gesamten Katastrophenregion an der Mittelmeerküste sind bis Donnerstagnachmittag mindestens 155 Menschen ums Leben gekommen.
Um 12 Uhr am Mittag versammelt Bürgermeister Ricardo Gabaldón die Bewohner Utiels zu sechs Schweigeminuten, um die Gestorbenen zu ehren. «Das wird uns noch lange begleiten», sagt Gabaldón und versucht ein wenig Optimismus zu verbreiten, während ein Helikopter über seinem Dorf dröhnt. Eigentlich hatte Spaniens Premier Pedro Sánchez seinen Besuch an diesem Mittag angekündigt. Am Ende kam er doch nicht nach Utiel.
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