Nato wird bedrängtUnter den Verbündeten macht sich Misstrauen breit
Bedrohliches China, beleidigtes Russland: Eigentlich hätten die Verteidigungsminister genug zu besprechen. Doch die Nato-Mitglieder haben auch untereinander einiges aufzuarbeiten.
China hat gerade mit einer Interkontinentalrakete einen neuen Hyperschall-Gleiter in eine Erdumlaufbahn geschossen, womöglich um einmal mit Nuklearsprengköpfen die US-Raketenabwehr überwinden zu können. Und Russland kappt die diplomatischen Beziehungen zur Nato – nachdem seine Streitkräfte im September beim Grossmanöver Sapad 2021 mit 200’000 Soldaten und dem simulierten Einsatz taktischer Atomwaffen geübt hatten, eine Intervention der Nato-Staaten in Weissrussland zurückzuschlagen, die dem Szenario der Moskauer Militärplaner nach auf einen Regimewechsel zielte.
Es gäbe also genug zu besprechen, wenn sich die Verteidigungsminister der nordatlantischen Allianz an diesem Donnerstag und Freitag in Brüssel treffen. Doch sehen sie sich auch erstmals persönlich seit dem überhasteten Abzug aus Afghanistan. Der hat bei europäischen Verbündeten Zweifel gesät, ob US-Präsident Joe Biden mehr Rücksicht auf sie nimmt als Donald Trump. Die transatlantischen Irritationen noch verschärft hat der neue indopazifische Sicherheitspakt der Amerikaner mit Australien und Grossbritannien, Aukus.
Macron will mehr Unabhängigkeit
Dieser Pakt hatte nicht nur zur Folge, dass Frankreich einen Milliardenauftrag über U-Boote für Australien an London und Washington verlor. Vor allem aus der Perspektive von Präsident Emmanuel Macron bestätigt das heimliche Vorgehen der USA wie schon der Afghanistan-Abzug, was er seit langem fordert: dass Europa mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von den USA in der Verteidigung braucht.
So gerät das Treffen in Brüssel zum Stimmungstest einer Allianz, die auf einen freundschaftlichen Ton und enge Konsultation über den Atlantik hinweg hoffte– sich nun aber einmal mehr mit Misstrauen und auf der Suche nach sich selbst konfrontiert sieht. Dabei lässt sich in militärischen Fragen am ehesten Einigkeit erzielen, so bei der Planung zur Abschreckung und Verteidigung des Bündnisgebiets, die am Donnerstag auf der Agenda steht.
Die Minister beraten, wie die Allianz auf multiple Bedrohungsszenarien reagieren soll, die von einem herkömmlichen militärischen Angriff über hybride Kriegsführung bis hin zu Cyberattacken reichen können. Dabei wird es auch um Antworten auf Russlands Aufrüstung im Bereich atomwaffenfähiger Marschflugkörper und Raketen gehen, wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch in Brüssel sagte.
Harte Linie gegen Moskau
Politisch zeichnet sich eine härtere Linie gegenüber dem Kreml ab: US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nannte bei einem Besuch in der Ukraine Russland als das Hindernis für Frieden im Osten des Landes. Frankreichs Aussenminister Jean-Yves Le Drian attestierte Russlands Präsident Wladimir Putin, Nachbarländer einzuschüchtern und sich in Angelegenheiten der EU und Afrikas einzumischen. Die Schliessung der russischen Vertretung bei der Nato gilt von Berlin über Paris bis Washington als Beleg, dass Putin an Dialog nicht interessiert ist – was der Kreml umgekehrt der Nato vorwirft.
Bei der Aufarbeitung des Nato-Einsatzes in Afghanistan geht es um den Kampf gegen Terrorismus und Lehren für weiter laufende Ausbildungsmissionen des Bündnisses etwa im Irak – doch schon hier schwingt die Frage nach der Rolle Europas mit. Am Freitag werden die Minister darüber mit dem EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell beraten, der einen «strategischen Kompass» der EU ausarbeitet, der unter französischer EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 beschlossen werden soll.
Die Nato entwirft parallel ein neues strategisches Konzept, das die Staats- und Regierungschefs im Juni verabschieden sollen. Dabei wird es vor allem auf Betreiben der USA auch um den Umgang mit China gehen; das derzeitige Grundlagenpapier der Nato geht darauf nicht ein. Aber eben auch darum, welche Rolle Nato und EU jeweils bei der Verteidigung Europas und europäischer Interessen spielen sollen.
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