Chef des Menschenrechtsrats im Interview«Es gibt eine Tendenz zur Heuchelei»
Jürg Lauber ist der erste Schweizer an der Spitze des UNO-Gremiums. In seinem ersten Interview erklärt er, was sein Amt dem Land bringt.
Die Schweizer Flagge im Büro des neuen Vorsitzenden des UNO-Menschenrechtsrats ist noch etwas zerknittert. Am 1. Januar hat Jürg Lauber den Posten übernommen. Der Menschenrechtsrat, in dem die Schweiz bis 2027 Mitglied ist, gilt als eines der wichtigsten Gremien der Vereinten Nationen. Für den Karrierediplomaten aus dem Kanton Zug ist es der Höhepunkt seiner Karriere, die er als UNO-Friedenssoldat in Namibia begonnen hat.
Herr Lauber, wie würden Sie den UNO-Menschenrechtsrat an einem Stammtisch beschreiben?
Es ist das wichtigste internationale Gremium, in dem über Menschenrechte geredet wird – und die sind für die Stabilität der Gesellschaft und die Stabilität zwischen Gesellschaften zentral.
Sie übernehmen den Vorsitz des Menschenrechtsrats als erster Schweizer. Ist es geopolitisch nicht der denkbar komplizierteste Zeitpunkt dafür?
Wir haben manchmal ein schlechtes Gedächtnis. Es gab auch früher schon sehr komplizierte Weltlagen. Ich lese gerade die Biografie der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie beschreibt darin unter anderem die ganze Entwicklung in den 80er-Jahren, die zur Wende führte. Ich habe dies damals in den Medien verfolgt, aber vergessen, wie kompliziert und gefährlich die Situation war.
Das war der Kalte Krieg mit zwei klar definierten Lagern. Die Lage heute ist doch viel unübersichtlicher – und mindestens so gefährlich.
Ich habe schon auch das Gefühl, dass es im Moment wahnsinnig viele Spannungen gibt.
Eine Folge davon: Nationale Interessen werden immer stärker in den Vordergrund gestellt. Auch die Schweizer Aussenpolitik fokussiert zunehmend auf die Wahrung ihrer Interessen. Was bringt Ihr Vorsitz der Schweiz?
Dass die Menschenrechte wichtig sind für uns, steht in der Bundesverfassung. Da gibt es auch einen Artikel, der sagt, dass die Förderung der Menschenrechte auf internationaler Ebene Teil unserer Aussenpolitik sein sollte. Die Schweiz hat erkannt: Menschenrechte fördern bedeutet, Stabilität zu fördern. Unser Vorsitz im Menschenrechtsrat ist ein Instrument zur Umsetzung unserer aussenpolitischen Ziele.
In diesem Menschenrechtsrat sitzt auch der Sudan. Vor wenigen Wochen warf die UNO paramilitärischen Milizen aus dem Sudan Genozid vor. Wie geht das zusammen?
Eigentlich gibt es Regeln, welche Qualität ein Land bei der Einhaltung der Menschenrechte erreichen muss, um Mitglied des Rats zu werden. Aber am Ende ist es die UNO-Generalversammlung in New York, die die 47 Mitglieder wählt. Und da entscheidet jedes Land selbst, wie strikt es die Regeln anwendet. Generell ist also zu bedenken, dass die Ausgrenzung eines Landes noch nie dazu geführt hat, dass die Menschenrechte besser geachtet werden. Mehr erreicht man durch Dialog, indem man ein Land dazu bringt, seine Verantwortung zu übernehmen.
Stark im Fokus ist Israel. Manche halten den Menschenrechtsrat für fundamental israelfeindlich.
Richtig ist: Die Situation der Menschenrechte in Israel und den besetzten Gebieten ist der einzige Konflikt auf der Welt, der permanent auf der Agenda des Menschenrechtsrats steht. Dies geschah nach dem Willen der UNO-Generalversammlung seit der Gründung des Rates.
Ist das gut?
Nein, das ist nicht gut.
Welche Rolle kann die Schweiz eigentlich im syrischen Friedensprozess spielen? Die Schweizer Neutralität wurde in den letzten Jahren nicht mehr von allen Akteuren anerkannt.
Wir haben in Syrien kein Interesse, keine Agenda – das hilft. Das ist ein Grund, warum Friedensgespräche immer wieder in der Schweiz stattfinden. Das Konzept der Neutralität wird vor allem von denen, die direkt an einem Konflikt beteiligt sind, nicht immer verstanden. Aber ich mache die Erfahrung, dass unser Ansatz noch immer sehr akzeptiert ist. Neutralität heisst ja auch nicht Indifferenz. Wir sind immer klar, was Völkerrechtsverletzungen angeht.
Konkret: Russland hat die Schweiz in den letzten Jahren nicht mehr als neutral anerkannt. Haben Sie das Gefühl, da ist etwas in Bewegung?
Ja, es ist aktenkundig, dass Russland gesagt hat, dass es in Ordnung ist, wenn Friedensgespräche zu Syrien in der Schweiz stattfinden.
Gibt es den UNO-Standort Genf in 20 Jahren noch?
Ja, auf jeden Fall. Die Frage ist, welche UNO-Organisationen es noch gibt und in welcher Verfassung sie sind.
Die Frage ist, wie viel die USA noch zahlt?
Ja, aber auch wer in 20 Jahren den Ton angibt unter den Mitgliedsstaaten. Wer ist bereit, in das internationale System zu investieren? Angesichts der globalen Herausforderungen können die Antworten nur global sein. Und gibt es auch in 20 Jahren immer noch nur Staaten, die mitreden, oder gibt es Konfigurationen, in denen auch Private eine Rolle spielen?
Sie meinen Milliardäre wie Elon Musk?
Nicht nur. Man sieht in Organisationen wie der WHO schon heute, dass grosszügige Philanthropen eine Agenda setzen können (Anm. d. Redaktion: die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung). Aber wenn wir zum Beispiel Techunternehmen regulieren wollen, können wir das kaum ohne die Kompetenz der Branche tun.
Die UNO-Botschafterin der ersten Trump-Regierung bezeichnete den Menschenrechtsrat als «heuchlerisch» und «mit sich selbst beschäftigt».
In meiner zweiten Sitzung als Vorsitzender beschäftigen wir uns mit der Menschenrechtssituation in der Ukraine. Ich kann Ihnen sagen: Das ist sehr real und hat wenig mit Selbstbeschäftigung zu tun. Aber natürlich muss man in einer solchen Institution auch aufpassen, dass man nicht in einer Blase lebt.
Und was ist mit dem Vorwurf der Heuchelei?
Eine Tendenz zur Heuchelei gibt es, wenn Länder versuchen, die Situation bei ihnen positiver darzustellen, als sie ist.
So wie die Schweiz. Als ein Bericht 2023 bei uns Menschenrechtsprobleme wie Racial Profiling anprangerte, reagierten viele entgeistert. Verstehen Sie diese Reaktion?
Ja, natürlich. Das geht doch erst mal allen so, wenn sie kritisiert werden. Aber dann muss man halt versuchen, sachlich zu bleiben. Vielleicht realisiert man dann, dass es wahrscheinlich doch Spielraum zu gewissen Verbesserungen gibt.
Die Tendenz besteht eher darin, sich zu wehren. Politiker inklusive Bundesrat fanden, die Schweiz solle das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Klimaseniorinnen ignorieren. Wird das international registriert?
Ich bin nicht direkt darauf angesprochen worden.
Als Ihr grösster persönlicher Erfolg gilt der UNO-Migrationspakt, an dessen Ausarbeitung Sie massgeblich beteiligt waren. Im Dezember hat das Schweizer Parlament endgültig entschieden, nicht beizutreten. Welches Zeichen sandte die Schweiz damit?
(lächelt) Ich kann es ehrlich gesagt schwer beurteilen, weil ich persönlich nie darauf angesprochen wurde.
Die SVP hatte das Abkommen als «globale Personenfreizügigkeit» beschrieben.
Ich will lieber nicht weiter ins Detail gehen. Der Bundesrat hielt den Pakt für einen Beitrag zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit in der Migration. Das Parlament kam zu einer anderen Einschätzung. Punkt, Schluss.
Sie beschäftigen sich schon fast Ihr ganzes Leben mit der UNO. Glauben Sie heute mehr oder weniger an dieses Projekt als damals?
Heute bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass die Welt nicht darauf verzichten kann, die globalen Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Ich habe mir in jungen, naiven Jahren vorgestellt, dass alles immer besser und besser wird. Und im Moment spüre ich einfach sehr viel Skepsis gegenüber Institutionen und gegenüber der Idee der internationalen Zusammenarbeit. Das finde ich bedrückend. Ich bin heute weniger überzeugt als vor 30 Jahren, dass die UNO in 20 Jahren noch gleich aussieht.
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