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Ausgewandert nach Kirgistan
«Ich habe kein Problem, in Krisenländern zu arbeiten»

Olivier Bangerter auf einem sanierten Staudamm, den die Schweiz mit viel Geld mitfinanziert hat.

Als eines Samstagmorgens im Jahr 2021 der Alarm ertönt, hat Olivier Bangerter nicht einmal mehr Zeit, sich umzuziehen. Im Pyjama rennt er zum Bunker. Sein Adrenalin: von 0 auf 100. Das Protokoll der Schweizer Vertretung in Kabul duldet kein Zögern, innerhalb von 30 Sekunden müssen sich alle Angestellten in Sicherheit bringen. Für die Evakuation steht eine Notfalltasche mit persönlichen Dokumenten und Kleidern bereit.

Während der zwei Jahre, in denen Bangerter höchster Schweizer im zentralasiatischen Land ist, sind Raketenangriffe auf die Hauptstadt Afghanistans längst keine Ausnahme mehr. Er weiss: Im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten gilt sein Standort als der exponierteste.

April 2023, zwei Jahre sind seither vergangen. Bangerter lebt mittlerweile im viel kleineren Kirgistan und vertritt dort als Botschafter die Schweizer Interessen. Seine aktuelle Mission ist weitaus einfacher als die letzte.

Dolon-Pass, 3030 Meter über dem Meer: Der weisse Toyota mit dem roten Diplomatennummernschild kurvt die einsame Strasse hoch. Oben bläst ein steifer Wind. Das Ziel heisst Naryn, ein Provinzort, knapp fünf Autostunden von der Hauptstadt Bischkek entfernt. Bangerter sitzt auf der Rückbank und beugt sich über den Ausdruck seiner Rede, die er bald halten wird.

Menschen, Kultur und Kost gefallen ihm hier. Die einsamen Gegenden, die staubigen Ebenen und schroffen braunen Bergketten erinnern ihn an Afghanistan. Trotz Bürgerkrieg, Bomben und Taliban sagt er: «Es war super, ich vermisse diese Zeit.»

Es zieht ihn zu den Menschen

In jungen Jahren deutet nichts darauf hin, dass Bangerter einmal in der ganzen Welt unterwegs sein wird. Als Kind einer Deutschschweizerin und eines Westschweizers wächst er in Lausanne auf und besucht dort das Gymnasium. Seine Familie verlässt selten die Schweiz, ihre weiteste Reise führt sie nach London.

Bangerter studiert Theologie, er will Pfarrer werden. Doch dann merkt der Waadtländer, dass er für diesen Beruf nicht die richtigen Fertigkeiten mitbringt. «Als Pfarrer musst du Leute ständig zusammenführen können – das liegt mir nicht.» Sowieso kann er sich eine Tätigkeit am immer gleichen Ort schwer vorstellen, es zieht ihn in die Ferne.

Während sieben Jahren betreut er im Auftrag einer christlichen Organisation Studierende im Gymnasium und an der Universität. Er schreibt seine Dissertation über das militärische Denken von Ulrich Zwingli. Mit 30 Jahren merkt Bangerter, dass er nicht mehr länger mit jungen Menschen arbeiten möchte. Er bewirbt sich für eine Stelle beim Internationalen Roten Kreuz (IKRK). Damals nimmt die Organisation nur fünf Prozent aller Bewerbenden auf.

Der Diplomatenwagen stoppt. Eine Herde Pferde trottet über die Landstrasse. Das Nationaltier Kirgistans ist hier allgegenwärtig. Allein in freier Wildbahn, geführt von Reitern, als mächtige Statuen in den Städten oder irgendwo am Strassenrand, auch auf dem Teller der Einheimischen im Restaurant oder in den Jurten.

Die Hauptstadt Bischkek befindet sich auf einem Pfad zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die Kirgisen entstammen einem Reitervolk, das einst über die weiten Steppen und kargen Bergpfade herrschte. Die Seidenstrasse führt durch das Land, auf der schon die Mongolen nach Westen expandierten und Jahrhunderte später die Sowjets nach Süden und Osten.

Überall ist noch der alte Charme der früheren Sowjetunion spür- und sichtbar.

Die Bevölkerung ist geprägt von dieser vielschichtigen Geschichte, das macht es für Bangerter spannend, darüber zu lesen. Er hat viel über Land und Leute erfahren, lässt sich von seinen lokalen Angestellten in Kultur und Geschichte unterrichten, lernt Kirgisisch, schätzt die Einsätze, die ihn mit der Landbevölkerung in Kontakt bringen.

«Ich sehe meine Aufgabe, die Schweiz zu vertreten, nicht bloss darin, in der Hauptstadt zu sitzen und mit anderen Diplomaten Cocktails zu trinken», sagt er.

Kein Ort für Zyniker

Hätte Bangerter gewusst, wie hart damals das Auswahlverfahren beim IKRK ist, er hätte sich wohl nie beworben. Doch beim Jobinterview überzeugt er derart, dass ihn die Organisation aufnimmt und mit einer ersten Mission betraut. Auswählen, wohin ihn der Einsatz führen wird, kann er nicht; als Bangerter das Couvert öffnet, steht da: Afghanistan.

Der heute 52-Jährige strahlt und sagt: «Ich hatte mega Schwein.» Er hält kurz inne und fügt an: «Andere würden das womöglich etwas anders sehen.»

Der Botschafter besucht Menschen in einem ärmeren Quartier. Künftig sollen hier neu gepflanzte Bäume in den heissen Monaten Schatten spenden.

2002 bricht er nach Pakistan auf und bereitet sich drei Monate auf seinen Einsatz vor, lernt fliessend die lokale Sprache Dari und die Verhaltensregeln Afghanistans kennen. In den folgenden Monaten arbeitet er in Herat im Westen von Afghanistan, kümmert sich um Menschen, die ihre Verwandten verloren haben, besucht Gefängnisse vor Ort.

«Wenn du in einem solchen Umfeld arbeitest, musst du aufpassen, dass du nicht zynisch wirst – oder emotional brichst.» Bangerter lernt, sich emotional abzugrenzen, ohne dabei seine Menschlichkeit zu verlieren.

Ihm war schon vor dem Aufenthalt bewusst, dass die Kultur in Afghanistan vielseitig ist und die Leute gastfreundlich sind. «Aber dass es ein derart schönes Land ist, hätte ich nie gedacht.» Bangerter hat seine Berufung gefunden, für das IKRK arbeitet er in der Folge im Kongo, in Russland und kürzer in Äthiopien, im Sudan, im Tschad, im Libanon sowie auf den Philippinen. Er beschäftigt sich mit bewaffneten Gruppen in Krisengebieten.

An einer Sitzung in der Provinzhauptstadt erkundigt sich Olivier Bangerter nach den Fortschritten verschiedener Infrastrukturprojekte.

Zurück in der Schweiz tritt er einen Posten bei der Uni Genf an, den er nach drei Monaten bereits wieder aufgibt. Denn der Bund hat eine Stelle ausgeschrieben, das Dossier der Abteilung in Bern lautet: Menschenrechte, Kriegsrecht, bewaffnete Gruppen. Das Anforderungsprofil ist Bangerter auf den Leib geschneidert.

Er kennt die lokalen Gepflogenheiten

Im Provinzhauptort Naryn ist das traditionelle Kirgistan noch an jeder Ecke zu spüren. Die Menschen tragen Kalpak-Filzhüte, fasten während des Ramadans und ziehen in der Freizeit mit Jurten aufs Land.

Hier am Verwaltungssitz besucht der Botschafter ein regionales Komitee. Es geht um Investitionen, die die Infrastruktur der Stadt verbessern sollen. Die Schweiz unterstützt das Vorhaben kräftig mit Steuergeldern. Seit Kirgistan 1991 unabhängig geworden ist, hat die Eidgenossenschaft 500 Millionen Franken in das Land investiert. Im Gegenzug erhofft sich die Schweiz mehr Stabilität in dieser Weltregion.

Im Anschluss referiert Bangerter an der University of Central Asia. Er wird vom Schulleiter mit «Seine Exzellenz» begrüsst, spricht ohne Notizen, erklärt die Rolle der Schweiz in Kirgistan und Zentralasien, erwähnt Herausforderungen wie die Wasserversorgung.

Am Ende wird er von einer Schar Studierender mit Fragen gelöchert. Ganz wichtig: Welches kirgisische Essen mag er am liebsten? Der Botschafter hat auf alles eine Antwort, nennt seine Vorlieben bei den lokalen Speisen, die er alle schon gekostet und schätzen gelernt hat. Etwa Samsi-Fleischtaschen oder Gul Chatai, Teigwaren mit Fleisch in Bouillon.

Als Bangerter beim Bund beginnt, ist er bereits verheiratet und hat zwei Söhne. Er klettert die Karriereleiter hoch, nicht geradlinig, wie er sagt, sondern im Zickzack. Er leitet bei der UNO ein Team für den humanitären Weltgipfel, dann kommt er zurück nach Bern und darf als stellvertretender Abteilungsleiter Gelder für multilaterale humanitäre Hilfe sprechen.

Dann wird 2019 der Posten in Kabul frei. Während sich der Botschafter in Pakistan befindet, muss sich der höchste Schweizer auf der Aussenstelle in Afghanistan mit einem massiven Sicherheitsdispositiv auseinandersetzen.

Der Selektionsprozess ist hart, doch Bangerter will nach seiner Zeit beim Roten Kreuz unbedingt wieder nach Afghanistan. Mit seiner Frau Rhoda beschliesst er aber, dass er wegen der prekären Lage allein für zwei Jahre dorthin reisen wird. Er sagt: «Wenn du nach Kabul gehst, musst du dir sicher sein, dass du der Richtige für den Job bist.»

Der höchste Schweizer ist ein beliebtes Fotosujet. Er möchte seine Aufgabe nicht bloss in der Hauptstadt erfüllen, es zieht ihn zur Bevölkerung auf dem Land.

Die Schweizer Vertretung ist damals in fünf Gebäuden ausserhalb der sogenannten sicheren Green Zone Kabuls einquartiert. Die Vorschriften sind strikt: Wegen der hohen Kriminalität und der Gefahr von Entführungen dürfen sich keine Schweizer Angestellten frei in der Stadt bewegen. Es sei denn, ein Team begibt sich auf einen Feldeinsatz. Bangerter ist selbst mehrmals unterwegs, ohne bewaffneten Konvoi zwar, aber in gepanzerten Fahrzeugen.

«Ich habe mich wohlgefühlt, wohl wissend, dass ich stets die Sicherheit aller im Auge behalten muss», erzählt er. Jeden Ausseneinsatz spielt er mit dem Sicherheitsteam akribisch durch und segnet ihn schriftlich ab. «Das war nie eine einfache Unterschrift.»

Die Zeit in Afghanistan ist für Bangerter hart, nicht bloss wegen des Bürgerkriegs, sondern vor allem auch wegen der Pandemie, die es für sein Team schwer macht, vor Ort zu arbeiten. In dieser Zeit stirbt seine Mutter an Krebs, sein Vater kurz darauf an Corona.

Offizielle Feierlichkeiten in Kirgistan sind pompös: In einer traditionellen Jurte werden lokale Würdenträger mit Riesengelagen empfangen.

Im Juli 2021 kehrt der höchste Schweizer aus Afghanistan in die Heimat zurück, die Taliban sind bereits auf dem Vormarsch, einen Monat später fällt die Hauptstadt Kabul in ihre Hände. Die Schweizer Vertretung wird samt lokalen Angestellten evakuiert. Als Bangerter in Bern ankommt, hat er bereits eine neue Position auf sicher. Eigentlich wollte er in der Bundesstadt Abteilungsleiter werden, doch die Stelle bekommt er nicht.

Stattdessen erhält er den Botschafterposten in Kirgistan. Während eines ganztägigen Verfahrens prüft der Bund, ob Bangerter für die Schweiz ein Sicherheitsrisiko darstellt. Sein Leben, seine Finanzen und die sozialen Medien werden durchleuchtet. Nur sechs Wochen nach seiner Abreise aus Afghanistan macht er sich wieder nach Zentralasien auf, diesmal mit seiner Familie.

Ehrengast an einem pompösen Fest

April 2023: Über den verschneiten Bergketten am Horizont hängt Nebel. Im Dienstauto sitzt neben Bangerter und seinem Fahrer auch Tunzhur, ein Kirgise, der sich seit zehn Jahren auf der Schweizer Botschaft in Bischkek um ein Wasserkraftprojekt kümmert.

Sie sind auf dem Weg über eine staubige Strasse zum At-Bashy-Damm. Die Schweiz hat 20 Millionen Franken beigesteuert, um diesen zu sanieren und seine Kapazität um über 10 Prozent zu erhöhen. Heute findet die Einweihung statt.

«Für mich war es zentral, dass meine Frau und ich hinter diesen Auslandabenteuern stehen», erzählt Bangerter während der Fahrt. Auch sei wichtig, dass beide ein eigenes Projekt verfolgen könnten.

Bei seinen Reden versucht Olivier Bangerter, stets auch einige Sätze Kirgisisch einzuflechten. Die Sprache lernt er derzeit.

So kümmert sich Rhoda etwa um die Schweizer Menügestaltung bei Botschaftsessen, begleitet ihren Mann bei offiziellen Anlässen, absolviert eine Journalismusschulung und ein Masterprogramm. Die Kinder besuchen eine internationale Schule. Sie würden enorm von dieser Auslandserfahrung profitieren, sind die Eltern überzeugt.

Vor der Kraftwerksanlage beim Staudamm warten regionale Würdenträger, Architekten und Angestellte unter einem Zeltdach. Eine traditionelle Musikgruppe steht bereit. In der Ferne landet ein Helikopter mit dem Ministerpräsidenten und dem Energieminister, beide wollen die Einweihung miterleben.

Als Bangerter an der Reihe ist, begrüsst er die Anwesenden auf Kirgisisch. Später wird er sagen, ihm sei wichtig, dass die Einheimischen seinen Effort sähen, Sprache und Land kennen zu lernen. «Sie schätzen es enorm, wenn man sich für sie interessiert – im Wissen, dass Kirgistan in der Welt kaum bekannt ist.»

Blick auf den Stausee des renovierten Wasserkraftwerks. Mit der finanziellen Unterstützung will die Schweiz mithelfen, Zentralasien langfristig zu stabilisieren.

In einer Jurte wird für eine ganze Armee aufgetischt. Es gibt, wie in diesem Land üblich, vor allem Pferdefleisch. Und viel davon. Bangerter erhält als Ehrengast das grösste und beste Stück.

Er ist vom ebenfalls riesigen Apéro bereits satt, winkt ab und zeigt auf eine bereitliegende Plastiktasche unter dem Tisch. «Ein bisschen probieren, dann packen wir das Essen ein.» Er kennt das Prozedere nach anderthalb Jahren in Kirgistan.

Ein Land mit unsicherer Zukunft

Tunzhur, der schon vier Botschafter erlebt hat, sagt in einer ruhigen Minute, dass Bangerter der erste Schweizer Vertreter sei, der Kirgisisch lerne. «Das gefällt den Leuten hier.»

Zumal die kirgisische Sprache gegenüber der russischen immer wichtiger wird. Sowieso sei der Waadtländer sehr umgänglich, meist für einen Spass zu haben und lasse sich selten aus der Ruhe bringen.

Kirgistan ist ein Pferdeland. Die Tiere sind überall anzutreffen: In der Steppenlandschaft und auch auf dem Teller der Einheimischen.

In der Tat scheint Bangerter dank Jahren des Einsatzes an vorderster Front innerlich gefestigt. Einen emotionalen Rucksack aus Afghanistan hat er nicht nach Kirgistan getragen, dafür liess er sich von einer Psychologin testen. Noch hat er die Hälfte seiner vierjährigen Amtszeit vor sich, dann geht es für ihn und seine Familie wohl zurück nach Bern – oder in ein anderes Land. Vielleicht in Afrika, im Nahen Osten, in Südostasien oder wieder in Zentralasien?

Auf der Rückfahrt nach Bischkek liest Bangerter im Buch «The Artist, the Philosopher, and the Warrior» von Paul Strathern. Der Titel passt irgendwie zu ihm, dem belesenen und studierten Mann, der über sich sagt, er arbeite am liebsten draussen mit den Menschen.

Der Winter lässt sich Anfang April aus dem zentralasiatischen Land nur schwer vertreiben.

Gibt es etwas, das ihm Sorgen bereitet?

Er legt sein Buch beiseite, überlegt und sagt: «Dieses Land, so schön es auch ist, lebt im Momentum.» Was morgen sein werde, sei schwer zu sagen. Wird der aktuelle Präsident Sadyr Dschaparow weiter gestärkt und das Parlament geschwächt? Wird Kirgistan zunehmend religiöser und damit konservativer? Solche Tendenzen gibt es.

Wer gewinnt im Ringen um Zentralasien – China, Russland, der Westen oder jemand anderes? Diese Fragen und eine womöglich neue Weltordnung machen ihm Sorgen.

Aber Bangerter weiss mit solchen Gedanken und Unsicherheiten umzugehen. «Ich habe keine Probleme damit, in einem Krisenland zu arbeiten.»