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#MeToo der SRG
Um den Kronzeugen kümmert sich niemand

«Wann ist die Zeit der Straflosigkeit zu Ende?» RTS-Mitarbeiterinnen sind mit der Aufarbeitung von Sexismus- und Übergriffsfällen in ihrem Unternehmen unzufrieden. 
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Die Botschaft kam überraschend. Betroffene reagierten wütend. Ja, es gab sexuelle Übergriffe, Belästigung und Mobbing beim Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS). Straftaten lägen aber keine vor. Und bezüglich der Informationen über das rüde Treiben unterer Chargen habe an der Unternehmensspitze nur «eine sekundäre Aufsichtsverantwortung» bestanden.

So informierten SRG-Verwaltungsratspräsident Jean-Michel Cina, SRG-Generaldirektor Gilles Marchand und RTS-Direktor Pascal Crittin vorige Woche an einem gemeinsamen Auftritt. Sie interpretierten in einer Art Liveshow aus dem Fernsehstudio im Medienzentrum des Bundeshauses die ersten Ergebnisse zweier Untersuchungen. Eine Expertise beleuchtet Übergriffsfälle, eine andere befasst sich mit den Verantwortlichkeiten der Vorgesetzten.

Journalisten hatte man für die Präsentation keine eingeladen. Fragen konnten sie elektronisch übermitteln. Einzelne Fragen wurden gar nicht erst verlesen. Andere wurden umformuliert und damit abgemildert.

Viertel der Belegschaft schreibt Protestbrief

Eine Botschaft war den Anwesenden besonders wichtig: Der ehemalige «Tagesschau»-Moderator Darius Rochebin sei von allen Anschuldigungen freigesprochen («blanchi»). Ihm hatten jüngere Männer und Frauen vorgeworfen, sie bedrängt und belästigt zu haben. Rochebins neue Vorgesetzte beim Pariser Privatsender LCI verkündeten umgehend, der Schweizer Journalist werde ab Montag wieder seine Primetime-Nachrichtensendung moderieren.

Viele RTS-Mitarbeiter macht das alles wütend. Für sie bleibt manches ungeklärt. Übergriffe und Sexismus würden verharmlost, die Verantwortung der Unternehmensführung heruntergespielt, heisst es. Knapp ein Viertel der Belegschaft stellte die Chefetage Anfang Woche in einem Protestbrief zur Rede.

Sie fragten sich: Wie konnte die Spitze von SRG und RTS angesichts der Faktenlage zu ihrer Einschätzung kommen? Haben gewisse Opfer und Zeugen von Übergriffen am Ende darauf verzichtet, in den Untersuchungen Belästigungs- und Übergriffsfälle zu deponieren?

Recherchen zeigen, dass man seitens der RTS Betroffene ignorierte. Betroffene geben wiederum an, von der Möglichkeit, an Untersuchungen teilzunehmen, nichts gewusst zu haben.

SRG-Generaldirektor Gilles Marchand war bis 2017 Direktor des Westschweizer Radios und Fernsehens. Niemand wirft Marchand vor, selbst sexistisch zu sein, aber eine sexistische Unternehmenskultur geduldet zu haben.

Blicken wir zurück. Die Probleme im Medienhaus RTS deckten drei Journalisten der Westschweizer Zeitung «Le Temps» Ende Oktober auf. «La RTS, Darius Rochebin et la loi du silence» (Die RTS, Darius Rochebin und das Gesetz des Schweigens) lautete der Titel der Recherche.

Die Journalisten stützten sich auf Dutzende anonymer Quellen. Nur der Lausanner Komiker Thomas Wiesel stand mit seinem Namen hin. Wiesel bezichtigte RTS-Moderator Darius Rochebin, ihn mithilfe gefälschter Facebook-Profile in eine Echokammer gelockt und dabei zudringlich geworden zu sein. 2017 hatte er RTS-Direktor Pascal Crittin informiert und Beweise vorgelegt. Rochebin bestätigte die Fake-Konten nie. Auf Anfrage dieser Zeitung verwies er an seinen Pariser Anwalt, der aber nicht reagierte.

«Die Präsentation war 50 Prozent Selbstmarketing und 50 Prozent Schadensbegrenzung.»

Thomas Wiesel, Betroffener von Übergriffen bei RTS

«Für eine Teilnahme an der RTS-Untersuchung bin ich nie kontaktiert worden», stellt Kronzeuge Wiesel klar. An der Untersuchung hätte er aber gerne teilgenommen. Die Liveshow der Spitzen von SRG und RTS beurteilt er als «50 Prozent Selbstmarketing und 50 Prozent Schadensbegrenzung».

Diese Zeitung konnte weitere Quellen ausfindig machen, auf die sich die «Le Temps»-Journalisten abstützten. Darunter ist einer der bekanntesten Journalisten der Romandie. Wie viele andere Betroffene arbeitet er ausserhalb der RTS. Der junge Mann erlebte seitens eines RTS-Angestellten einen Übergriff in seine Intimsphäre. Zum fraglichen Zeitpunkt war er 16 Jahre jung.

Keine Kontaktaufnahme seitens der RTS

Wie Thomas Wiesel betont der Journalist, an der unabhängigen Untersuchung hätte er fraglos teilgenommen. Der Auftritt der SRG- und RTS-Chefs habe ihn «schockiert». Begriffe wie «freigesprochen» seien fehl am Platz und gegenüber Betroffenen «unredlich».

Der Journalist versichert: Um seine Anonymität zu wahren, hätte ihn die RTS-Spitze via die Journalisten von «Le Temps» problemlos erreichen können. Gemäss Recherchen dieser Zeitung ist von der RTS nach dem Enthüllungsartikel nie jemand an die «Le Temps»-Journalisten geschweige denn an deren Quellen herangetreten.

In Einzelfällen hätte die RTS sogar die Chance gehabt, Quellen direkt anzugehen. Komiker Blaise Bersinger sprach am Tag nach Erscheinen der «Le Temps»-Recherche im RTS-Radio La Première öffentlich über Belästigungen und Zudringlichkeiten eines RTS-Mitarbeiters. Bersingers Manager sagt, das Medienunternehmen habe den Künstler danach nie kontaktiert.

«Es wäre erstaunlich gewesen, wenn die Journalisten uns ihre Quellen verraten hätten.»

Pascal Crittin
«Wir hatten kein Recht, uns in unabhängige Untersuchungen einzumischen»: RTS-Direktor Pascal Crittin. 

Warum kommen zentrale Quellen in den Untersuchungen von RTS und SRG nicht vor? «Wir hatten kein Recht, uns in unabhängige Untersuchungen einzumischen», wehrt sich RTS-Direktor Pascal Crittin. «Andererseits wäre es unangemessen gewesen, die Journalisten von ‹Le Temps› anzurufen, um sie nach ihren Quellen zu fragen – und es wäre erstaunlich gewesen, wenn die Journalisten sie uns gegeben hätten!», so Crittin.

Man habe indes ausführlich über die Möglichkeit informiert, dass jeder, der bei RTS arbeite oder gearbeitet habe, aber auch Aussenstehende auf die Hotline der Anwaltskanzlei «Collectif de Défense» anrufen können. «Davon weiss ich nichts», betont Thomas Wiesel. «Eine Untersuchung, die Dingen nicht von selbst auf den Grund geht, halte ich für eine ziemlich seltsame Untersuchung.»

Experten waren nicht im Studio

Es gibt weitere Auffälligkeiten. 237 Personen haben dem mit einer Untersuchung betrauten Genfer Anwältinnenbüro «Collectif de Défense» Übergriffs- und Belästigungsfälle gemeldet.

Ein Teil der Teilnehmerinnen hat die Aussageprotokolle noch nicht validiert. Trotzdem flossen mehrere Dutzend Protokolle in die Paralleluntersuchung über die Verantwortlichkeiten von Vorgesetzten ein, für die zwei weitere Experten verantwortlich sind. Diese haben einen Zwischenbericht verfasst, auf den sich die Spitzen von SRG und RTS bei ihrer Präsentation von letzter Woche abstützten.

Dabei fiel auf: Keiner der Experten war im TV-Studio anwesend. Die Zusammenfassung ihres Zwischenberichts, den die SRG auf ihrer Website publizierte, haben die Experten offenbar nicht selbst redigiert.

Wer ist dafür verantwortlich? SRG-Sprecher Edi Estermann schreibt auf Anfrage: «Die Anonymisierung des Berichts erfolgte durch einen spezialisierten Anwalt aus Lausanne.» Die Experten hätten aber bestätigt, «dass die im publik gemachten Dokument behandelten Kapitel verlässlich wiedergegeben werden».

Auch die Mediengewerkschaft SSM hat nur Zugang zur Zusammenfassung des Zwischenberichts, obschon das Untersuchungsmandat Gewerkschaftsvertretern ein generelles Einsichtsrecht in den anonymisierten Untersuchungsbericht garantiert. Man habe die SRG an diese Abmachung erinnert, sagt SSM-Sekretärin Valérie Perrin. Bis jetzt sei die SRG der Bitte um Einsicht nicht nachgekommen.

SRG droht mit Klage

Der Zeitung «Le Temps» droht die SRG-Führung inzwischen mit einer Klage. SRG-Sprecher Edi Estermann bestätigte entsprechende Zeitungsberichte, wollte auf Anfrage allerdings nicht auszuführen, an welche Art Klage das Medienhaus denkt. Estermann schreibt: «Die SRG prüft Optionen (für Klagen) nach Vorliegen der Schlussberichte im Spätsommer.» Darius Rochebin gab bereits 2020 bekannt, «Le Temps» in Paris wegen übler Nachrede verklagt zu haben. Davon unbesehen, könnten die drei Journalisten von «Le Temps» am kommenden Mittwoch für ihre Arbeit mit dem Swiss Press Award ausgezeichnet werden.

Die RTS-Belegschaft ist froh über die Enthüllungen. Weniger glücklich ist man über den Umgang mit den Problemen. Am Dienstag schickte sie dem SRG-Verwaltungsrat, SRG-Generaldirektor Gilles Marchand und RTS-Direktor Pascal Crittin, einen Protestbrief. Den Brief unterschrieben innert weniger Stunden 350 Leute. Die Signatäre machen deutlich, dass sie mit dem Auftritt und der Arbeit ihrer Vorgesetzten gar nicht einverstanden sind. «Die Tatsache, dass die Direktion zum überstürzten Schluss kam, es gebe bei der RTS kein strukturelles Problem mit Belästigungen am Arbeitsplatz, ist hochgradig problematisch», heisst es im Brief. RTS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter fragen: «Warum wurde der Bericht der Leitung von SRG und RTS übergeben, die ihrerseits unter erhöhter Beobachtung stehen?» Und sie fordern ein Treffen mit den Experten, die die Verantwortlichkeiten der Vorgesetzten untersuchen.

Die Antwort der Chefetage folgte umgehend. Auf die Bitte nach dem Treffen mit den Juristen ging man nicht ein. Im Antwortbrief heisst es: «Der Präsident des Verwaltungsrats, der Generaldirektor der SRG und der Direktor der RTS bekräftigen noch einmal ihre Absicht, notwendige Reformen durchzuführen.» Doch dafür sei es wichtig, «ruhige professionelle Beziehungen und gegenseitigen Respekt zu entwickeln». Doch bis zum Erscheinen der Schlussberichte im Sommer bleibt die Spannung hoch. Dann werden die Diskussionen von neuem losgehen.

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