Analyse zum Ukraine-KriegWas geschieht, wenn der Westen die Ukraine im Stich lässt?
Sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, bereitet Unbehagen. Doch sie drängt sich zunehmend auf angesichts der stockenden westlichen Unterstützung.
Die Hüter der Freiheit sind in Verzug geraten. Schuld daran trägt ein prominenter Putin-Versteher, der als ungarischer Ministerpräsident amtiert, Viktor Orban. Im Dezember blockierte er eigenwillig ein 50 Milliarden Euro schweres EU-Hilfspaket für die Ukraine.
Die Zeit drängt, Russland hat im Krieg weitgehend die Oberhand zurückerlangt, weshalb die EU-Spitze zu einem Sondergipfel eingeladen hat. Am Donnerstag sollen die längst überfälligen Gelder gesprochen werden. Die Ukraine ist mehr denn je darauf angewiesen, da der Streit im US-Kongress zwischen Republikanern und Demokraten jegliche Militärhilfe abwürgt.
Orban gibt sich derweil kompromissbereit. Seine Erpressungsstrategie hat sich ohnehin bereits gelohnt. Im Dezember gab die EU eingefrorenes Geld, 10 Milliarden Euro, an Ungarn frei. Mehr liegt derzeit kaum drin, da der Druck auf Orban steigt. Zahlreiche Abgeordnete des EU-Parlaments haben damit gedroht, dem ungarischen Ministerpräsidenten das Stimmrecht im EU-Rat zu entziehen.
Selbst wenn Orban nun einlenkt, kann er künftige Waffenlieferungen erneut verzögern. Dabei wäre ein anhaltender Rückgang der westlichen Unterstützung nicht nur für die Ukraine katastrophal. Der Westen muss sich der Folgen bewusst sein.
Das Ende der Ukraine
Wladimir Putin will die Ukraine vernichten, als Staat und Identität. Deshalb hat er das souveräne Land überfallen, und nichts daran hat sich geändert, wie seine Rhetorik zeigt. Im Dezember wiederholte er vor dem Verteidigungsministerium sein Mantra: Die «Spezialoperation» sei historisch gerechtfertigt, die Ukrainer seien eigentlich Russen («ein Volk») und die Ukraine daher ein «künstlicher Staat». Putin, der moderne Zar, will die Zeit zurückdrehen.
Versiegt die westliche Unterstützung, besteht die Gefahr, dass sich die ukrainischen Munitionslager leeren, bis Russland die Front durchbricht und zur Nato-Grenze vorrückt. Die ukrainische Regierung müsste ins Exil flüchten. Allenfalls bliebe deren Widerstandswille ungebrochen, weshalb Aufständische guerillaartig die russischen Besatzer bekämpfen könnten.
Langfristig jedoch würde Russland, ein Staat mit jahrhundertealter Erfahrung in der Unterdrückung und Assimilierung fremder Völker, die Ukraine russifizieren. So, wie es bereits heute im Osten der Ukraine geschieht. Tausende Kinder werden in Putins Reich verschleppt, um nach russischem Vorbild erzogen zu werden.
Astronomische Ausgaben für den Westen
Es sind beträchtliche Kosten, die der Westen tragen muss, wenn er Kiew unterstützen will. Doch der Preis für ein Fallenlassen der Ukraine wäre höher. Bereits jetzt sind um die 66’000 Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz. Jährlicher Kostenpunkt: eine Milliarde Franken. Europaweit leben an die 6 Millionen Menschen aus der Ukraine. Fällt ihre Heimat in russische Hände, flüchten weitere Millionen, aber dieses Mal dauerhaft.
Die russische Armee würde sich nach einem Sieg in der Ukraine entlang der Nato-Grenze aufstellen, vom Schwarzen Meer bis zum Arktischen Ozean. Europa müsste noch stärker aufrüsten, als es dies bereits tut. Und das, solange die russische Bedrohung anhält – womöglich auf unbestimmte Zeit. Ein siegreiches Russland sähe sich in seiner imperialistischen Politik bestätigt und würde unbeirrt daran festhalten.
Die Lektion für alle antiwestlichen Staaten wie China oder den Iran würde lauten: Der Westen gibt auf, wenn man lange genug Krieg führt. So könnten sie sich ermutigt fühlen, weitere Konflikte zu schüren, was weitere Fl¨üchtlingsströme auslösen könnte und dadurch die Kosten für den Westen weiter nach oben triebe.
Härtetest für die Nato
Letztlich sieht sich der russische Diktator im Kampf gegen den Westen. Der Einmarsch in die Ukraine sollte die Nato brechen, was Putin nicht gelang, aber ihn nicht davon abbrachte. Inzwischen legen seine Propagandisten den ideologischen Boden für eine militärische Aggression gegen die Nato. Dmitri Medwedew, eine Marionette Putins, erklärte im November, Polen könnte seine «Staatlichkeit» verlieren. Wladimir Solowjow, Chefpropagandist im Kreml-TV, signalisierte im Dezember, Russlands nächstes Ziel seien die baltischen Staaten.
Es wäre falsch, diese Äusserungen als Spinnerei abzutun. Der Westen war vom Angriff auf die Ukraine überrascht, weil er die Narrative der russischen Propagandisten nicht ernst nahm. Diese trichterten der russischen Bevölkerung über Jahre ein, die Ukraine drohe an den Westen verloren zu gehen. Putin selbst behauptete zwar, er wolle keinen Krieg gegen die Nato. Aber dasselbe versprach er der Ukraine, noch am Vorabend der Invasion.
Eigentlich hätten die Nato-Staaten nichts zu befürchten. Ihre Kampfkraft übersteigt jene Russlands um ein Vielfaches. Doch das liegt hauptsächlich an den USA, einem Land, in dem jemand wie Donald Trump an die Macht kommen kann – ein Mann, der die Nato verachtet.
Die derzeitigen Kräfte in Europa genügen nicht, um einen Grossangriff abzuwehren. Nach einem Sieg in der Ukraine baut Putin seine Armee wieder auf, bis er versucht sein könnte, das westliche Verteidigungsbündnis zu testen.
Artikel 5 des Nato-Vertrags verpflichtet zu «Massnahmen», die von den Bündnispartnern als «erforderlich» erachtet werden. Und das muss nicht zwingend Waffengewalt sein. Jeder Nato-Staat müsste selbst entscheiden, wie er vorginge. Ob ein Land wie Frankreich Atomraketen zündet, damit ein baltischer Staat nicht in russische Hände fällt, sei dahingestellt.
Die tragische Hoffnung
Auch eine russische Niederlage in der Ukraine könnte zu einer weiteren Eskalation führen. Putin und sein Regime wären versucht, Massenvernichtungswaffen einzusetzen, wenn sie sich existenziell bedroht fühlten. Doch der Westen ist sich dessen bewusst und verfolgt daher nicht die Absicht, Russland zu zerstören.
Bisher hat Putin keine Atomwaffen gezündet, weil er ein rationaler Akteur bleibt, wenn auch ein riskanter. Er überfiel sein Nachbarland, da ihm der Geheimdienst vorrechnete, die Ukraine liesse sich innert wenigen Tagen erobern. Und er kämpft weiter, weil er auf das Abflachen der westlichen Hilfe setzt.
Eigentlich hätte der Westen die finanziellen und militärischen Möglichkeiten, um Russland aus den ukrainischen Gebieten zu drängen. Tragischerweise jedoch scheuen sich viele, die Ukraine weiter zu unterstützen, da sie glauben, es fordere einen höheren Preis. Putin aber würde einen Waffenstillstand nutzen, um seine Armee auf den nächsten Angriff vorzubereiten.
Der Kreml weiss, dass er nur dann gewinnt, wenn die USA und die EU die Ukraine fallen lassen. Deshalb zielt russische Desinformation darauf ab, den Westen so zu beeinflussen, dass er seine eigenen Interessen aufgibt – im Glauben, es sei die beste Option. Dieser Manipulation zu verfallen, bedeutet, Russland zum Sieg zu verhelfen. Noch besteht die Möglichkeit, das Aggressorland aus der Ukraine zu vertreiben.
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