Ukraine-Blog: Fotos, Fakes und FragenSie bekämpfen sich mit «kalten, bissigen Witzen»
Der Konflikt zwischen Präsident Selenski und Oberbefehlshaber Saluschni spitzt sich zu. Die Ursprünge der Rivalität reichen weit zurück.
Es kriselt in der Spitzenführung der ukrainischen Armee – das ist seit spätestens einem Monat auch der westlichen Öffentlichkeit bewusst. In einem Interview mit der britischen Zeitschrift «The Economist» von Anfang November sagte der ukrainische Oberbefehlshaber Waleri Saluschni, dass sich der Krieg in einer «Sackgasse» befinde. Wenige Tage später widersprach Staatschef Wolodimir Selenski dem Topgeneral öffentlich – und desavouierte damit die Armeeführung.
In der Zwischenzeit haben sich die Gemüter der beiden ukrainischen Befehlshaber nicht beruhigt. Das wurde vor zwei Wochen bei einem Überraschungsbesuch von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin in Kiew offensichtlich, wie die unabhängige ukrainische Onlinezeitung «Ukrajinska Prawda» berichtete. Der Event sei zu einem «zusätzlichen Katalysator der Spannungen zwischen der militärischen und der politischen Führung in Kiew» geworden, schreibt die Zeitung.
Die Atmosphäre an der Veranstaltung war laut einem teilnehmenden Politiker geprägt gewesen von «kalten, bissigen Witzen» zwischen Selenski und Saluschni: «Man hat den Eindruck, dass Selenski nach der Ankunft von Austin der Entscheidung, Saluschni zu ersetzen, nähergekommen ist.»
Spannungen schon kurz nach Kriegsbeginn
Die Rivalität zwischen Selenski und Saluschni begann nicht erst mit dem Interview im «The Economist» – sie geht weit zurück. Die «Ukrajinska Prawda» hat die Beziehung zwischen dem Präsidenten und dem General seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 analysiert. Laut der Zeitung begannen die ersten Spannungen schon kurz nach Kriegsbeginn.
Im März 2022 untersuchte die ukrainische Forschungsorganisation Rating, wie sich der Krieg auf das Vertrauen der Ukrainer und Ukrainerinnen in staatliche Institutionen auswirkte. Die Untersuchungen ergaben, dass damals 93 Prozent Präsident Selenski vertrauten. Das war ein sehr hoher Wert – übertrumpft wurde dieser jedoch von den Streitkräften der Ukraine, die einen Wert von 98 Prozent erzielten.
Die ukrainische Armee mit Saluschni an der Spitze genoss von Anfang an eine hohe Popularität. Der Oberbefehlshaber stellte damit eine mögliche Konkurrenz für Selenskis politische Einflussnahme dar. «Das Gefolge des Präsidenten war besorgt darüber, durch wen die Armee personifiziert werden würde», schreibt die «Ukrajinska Prawda».
Zur gleichen Zeit war die Schaffung eines nach Saluschni benannten Wohltätigkeitsfonds geplant. Laut dem Portal hatte das Präsidentenbüro die Befürchtung, der Fonds könnte sich später «in eine politische Partei verwandeln». Die Gründung des Fonds wurde wenig später verworfen.
«Die Leute stellen Saluschni mit einer Gottheit gleich»
Wenige Wochen nach Kriegsbeginn wurde es dann plötzlich ruhig um Saluschni: «Nach unangenehmen Auseinandersetzungen mit der politischen Führung verzichtete Saluschni bewusst darauf, mit den Medien zu interagieren», schreibt die «Ukrajinska Prawda». Seine Öffentlichkeitsarbeit beschränkte sich vor allem auf das Verfassen von Beiträgen auf Social Media.
Seiner Beliebtheit in der Ukraine tat dies jedoch – entgegen den Hoffnungen des Präsidentenbüros – keinen Abbruch, im Gegenteil: Jede seiner Handlungen habe sofort «eine phänomenale Reaktion» unter den Ukrainern und Ukrainerinnen ausgelöst, schreibt das Portal. «Die Leute stellen Saluschni mit einer Gottheit gleich: ‹Er beschützt uns.› Ein irrationaler Glaube», sagte ein ukrainischer Beamter gegenüber der Zeitung, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.
Lange wurde die Rivalität im Geheimen ausgetragen. Doch als die ukrainische Offensive im Süden des Landes ins Stocken kam, gerieten die Differenzen an der Spitze des Landes immer stärker in die Öffentlichkeit. Dass sich politische Differenzen bei militärischen Niederlagen schneller offenbaren, ist im Krieg oft der Fall.
Und die ukrainische Gegenoffensive gilt inzwischen offiziell als gescheitert: In einem Interview mit BBC Russia sagte der ehemalige ukrainische Oberbefehlshaber Wiktor Muschenko am Dienstag, dass «die durch die Informationsunterstützung geweckten Erwartungen für die Ukraine nicht Wirklichkeit geworden sind». Als Gründe nannte er unter anderem ungerechtfertigten Optimismus der führenden Offiziere.
Saluschni wurde «zu einem prominenten Phänomen»
Die «Ukrajinska Prawda» führt den Konflikt der beiden Befehlshaber darauf zurück, dass jeder in das Verwaltungsgebiet des anderen eingreift: Selenski hat «Elemente der Politik» in das Oberkommando der Armee eingebracht, während Saluschni «ungewollt zu einem prominenten Phänomen» in der politischen Realität der Ukraine geworden ist. Damit habe er die «Sphäre der vitalen Interessen» des Präsidenten herausgefordert.
Dieser Wettkampf hat auch zu bürokratischen Konflikten geführt. So hat Selenski beispielsweise laut der ukrainischen Onlinezeitung «parallele Mechanismen für die Kommunikation mit den Befehlshabern der verschiedenen militärischen Abteilungen geschaffen». Dies hat zur Konsequenz, dass Saluschni manchmal wichtige Informationen erst viel später von seinen Untergebenen erfährt. «Das ist sehr demotivierend für den Oberbefehlshaber und hindert ihn daran, die gesamte Armee zu befehligen», sagte eine Quelle aus Saluschnis engstem Kreis gegenüber der «Ukrajinska Prawda».
Droht Saluschni die Entlassung?
Seit Saluschnis Äusserungen über die «Sackgasse» im Krieg im «The Economist» gab es immer wieder Gerüchte über eine mögliche Entlassung des Obergenerals. Mitte November wurden diese von Andri Jermak, Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, dementiert.
Die «Ukrajinska Prawda» spekuliert, dass Olexandr Sirski, der oberste ukrainische General im Osten, der einzige denkbare Kandidat für die Nachfolge Saluschnis wäre. Den Quellen des Portals zufolge geniesst er jedoch nicht die gleiche öffentliche Aufmerksamkeit und hat immer noch mit seinem Ruf als General zu kämpfen, der das Leben seiner Soldaten nicht schätzt.
Eine Entlassung Saluschnis würde wegen dessen Popularität auch grosse Risiken beinhalten. Laut der «Ukrajinska Prawda» besteht das Hauptproblem darin, dass eine allfällige Absetzung Saluschni zum «Superstar» katapultieren und die Landschaft der ukrainischen Politik verändern würde.
Fest steht: Nach bald zwei Jahren Krieg bröckelt die Geschlossenheit in der Staatsführung der Ukraine. Neben der gescheiterten Offensive an der Front werden das Land in den kommenden Monaten auch die innenpolitischen Spannungen beschäftigen.
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