Ex-Präsident der Ukraine in der Schweiz «Putin macht uns keine Angst mehr. Wir haben bereits gewonnen»
Wiktor Juschtschenko war der Hoffnungsträger der Orangen Revolution. In seiner Zürcher Rede beschwört er den Widerstandsgeist der Ukrainer – dann spricht er die Schweiz an.
Eigentlich sollte Wiktor Juschtschenko tot sein. Ein Gift, so rein, wie es nur in einem Labor herzustellen ist, zirkulierte in seinem Blut, mindestens das Tausendfache der normalen Konzentration. Das war 2004, kurz vor den Präsidentschaftswahlen. Die meisten Ukrainer wollten sich Europa annähern und ihre Stimme Juschtschenko geben, dem Hoffnungsträger.
Ärzte in Wien und in Genf retteten ihm das Leben. Ohne sie wäre er nie dritter Präsident der Ukraine geworden. Oder an diesem Donnerstagabend hier, am Europa-Institut der Universität Zürich, um einen Vortrag zu halten. Über Wladimir Putin, der sein Land und seine Identität vernichten will. Über die Fehler des Westens und den Widerstand der Ukraine. «Wir werden unser Land von diesen Moskauer Ratten befreien», wird der 70-jährige Ex-Präsident am Ende seiner Rede sagen. (Lesen Sie unseren Leitartikel zu Wahlen in Russland: Der Westen muss Russland als Diktatur behandeln)
Noch heute sind die Folgen seiner Vergiftung sichtbar. Selbst nach 25 Operationen in Vollnarkose. Sein Gesicht ist vernarbt. Gebrandmarkt mit Chlorakne, eine Hautstörung, die infolge einer Dioxinvergiftung auftreten kann. An diesem Abend geht Juschtschenko nur einmal darauf ein, indem er bemerkt, «Putin weiss, wer es getan hat». Gesicherte Beweise zur Täterschaft gab es nie. Oder sie drangen nie an die Öffentlichkeit.
Juschtschenkos Revolution
Die Popularität von Juschtschenko musste für Putin ein Schock gewesen sein, der Beginn seiner Paranoia, «Russland drohe die Ukraine zu verlieren». Der Kreml-Chef hätte lieber Wiktor Janukowitsch an der Spitze der Ukraine gesehen, einen prorussischen Politiker. Zuerst sah es auch danach aus. Nach dem ersten Wahlgang 2004 lag Janukowitsch vorn. Schnell aber entlarvte sich der Vorsprung als Wahlbetrug.
In Kiew gingen die Ukrainer zu Tausenden auf den Maidan, um zu demonstrieren. Eine Revolution war geboren, die Orange Revolution, Juschtschenkos Wahlfarbe. Der Protest wirkte. Das Oberste Gericht liess die Stichwahl wiederholen. Juschtschenko siegte.
Danach folgte das erste Treffen mit Putin. «Komisch», sagt Juschtschenko, womit er das Gespräch meint. «Ich wollte über unser Verhältnis reden.» Putin habe jedoch darüber gesprochen, weshalb er zu einem russischen Imperium zurückkehren wolle. «Ich denke, das kommt von einem Mangel an Bildung.»
Juschtschenko hatte die wahre Natur Putins früh erkannt. Zu einer Zeit, als der Westen noch glaubte, es gäbe «Wandel durch Handel» – die naive Hoffnung, aus heutiger Sicht, dass enge Wirtschaftsbeziehungen mit Russland Stabilität garantieren, sogar eine demokratische Wende bewirken können.
Diese Strategie des Westens, sie war der Fehler, lautet die Botschaft von Juschtschenko. 2008 marschiert Putin in Georgien ein. Einen Monat später beschliesst Deutschland, die Gaspipeline Nord Stream 1 mit Russland zu bauen. «Seht Ihr die Logik dahinter?», fragt Juschtschenko. Der Westen sah sie nicht. 2014 annektierte Putin die Krim, schickte Truppen in den Donbass. Zwei Monate später unterschreibt Deutschland einen Vertrag für Nord Stream 2. «Die EU war stumm. Die Nato war stumm.»
Macron telefoniert über 16 Stunden mit Putin
Mit dem Grossangriff Russlands am 24. Februar 2022 änderte sich das. Wenn auch schrittweise. Anfangs schickte Deutschland Helme, «heute ihr ganzes Arsenal». Wobei Juschtschenko anmerkt, dass Bundeskanzler Olaf Scholz keine Taurus-Marschflugkörper liefert.
Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron habe einen Wandel durchlaufen. «Kurz vor Russlands Aggression telefonierte Macron über 16 Stunden mit Putin. Erfolglos. Ich habe meine Frau gefragt, wie viele Stunden wir in diesem Jahr am Telefon gesprochen haben. Vielleicht eine Stunde.» Inzwischen aber habe sich Frankreichs Haltung verändert. Wobei Juschtschenko, auch hier, einen Mangel nachschiebt: «Die Menge an Waffenlieferungen ist relativ klein.»
Juschtschenkos Ausführungen wirkten auf die rund 600 Menschen im Vortragssaal der Universität Zürich überzeugend. Einige sagen danach, es sei inspirierend gewesen, auch wenn Juschtschenkos Überlegungen nicht neu seien. Während seiner Rede schweigen die Zuhörer, ab und zu lachen sie, manchmal wird geklatscht. Dann aber sagt der Ex-Präsident, was ihn an Journalisten nervt. Derzeit würden alle auf dasselbe abzielen: Für die Ukraine läuft es schlecht, sie verliert Städte an der Front. «Das ist eine Lüge», entgegnet Juschtschenko. Im Saal klatscht niemand.
Juschtschenko spricht als Politiker, nicht als Militärstratege, wenn er sagt, er vertraue auf mehr Munition aus dem Westen, während im US-Kongress ein 60-Milliarden-Hilfspaket blockiert ist. Wenn er auch betont, «unser Wille ist stark, unsere Nation geeint». Es sind Durchhalteparolen. Seine Lösung für einen Frieden? Der 10-Punkte-Plan von Wolodimir Selenski, wobei erst verhandelt werden soll, «wenn der letzte dreckige Stiefel eines russischen Soldaten unser Land verlässt». Auf die Nachfrage aus dem Publikum, ob er das für realistisch halte, jetzt, da das Momentum bei den Russen liege, geht Juschtschenko nicht ein.
Seine Erwartungen an die Schweiz, die einen Friedensgipfel plant, sind widersprüchlich. «Die Schweiz hat die nötige Erfahrung für einen solchen Gipfel, sie kann Gespräche starten», meint Juschtschenko. Dann aber sagt er, die Ukraine brauche die Schweiz als Verbündeten, und er sehe, wie sich die Schweizer Neutralitätspolitik verändere.
«Die Welt gewinnt nur, wenn man Böses als Böses nennt», fügt er an. Die Finnen hätten das verstanden und ihre Neutralität aufgegeben, um Nato-Mitglied zu werden. «Sie haben die Lage analysiert und die richtige Entscheidung getroffen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.» Hat Juschtschenko die Schweiz gerade indirekt dazu aufgefordert, ihre Neutralität aufzugeben? Oder war es ein Übersetzungsfehler?
Seine Versprechen blieben unerfüllt
Juschtschenko spricht in seiner Zürcher Rede nur Ukrainisch. Alle zwei Sätze macht er eine Pause, damit seine Frau Katerina auf Englisch übersetzen kann. «Wenn eine Nation ihre Sprache verliert, verliert sie ihre Identität», sagte Juschtschenko einst. Während seiner Präsidentschaft förderte er ein nationales Bewusstsein, Medienfreiheit und demokratische Prozesse. Doch bei den Wahlen 2010 erreichte er knapp fünf Prozent Stimmenanteil, das schlechteste Ergebnis eines amtierenden Präsidenten in der Geschichte der Ukraine. Der einstige Hoffnungsträger war gescheitert. Seine Versprechen blieben unerfüllt.
Eine Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft? Verfehlt. Eine konkrete Beitrittsperspektive zur Nato? Ausgeblieben. Der Kampf gegen die Korruption? Verloren. Vielleicht waren Juschtschenkos Ziele zu hoch gesteckt, unerreichbar. Damals wollte er sein Land rechtsstaatlich aufbauen. Heute kämpft die Ukraine ums Überleben, damit es überhaupt einen Wiederaufbau gibt. Was kann die Ukraine noch erreichen? «Putin macht uns keine Angst mehr. Wir fühlen, dass wir bereits gewonnen haben.»
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