Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Bestsellerautorin zur Ukraine
«Viele im Westen nehmen den Krieg als Spektakel wahr, es hat etwas Pornografisches»

*** SPECIAL FEE *** Francesca Melandri, Bruneck, Italien, Schriftstellerin, Portrait, Einzelportrait, 

Engl: Francesca Melandri, Bruneck, Italy, author, portrait
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk
In Kürze:
  • Francesca Melandris Buch «Kalte Füsse» beleuchtet Italiens Umgang mit seiner Vergangenheit.
  • Ein Youtube-Video über ukrainische Frauen inspirierte sie zum Schreiben.
  • Die Autorin wirft dem Westen Ignoranz vor.

«Irgendwelchen Irynas» hat Francesca Melandri ihr Buch gewidmet, genauer: «allen irgendwelchen Irynas». Um diese seltsame Widmung zu verstehen, muss man bis auf Seite 91 lesen, auf der ein prominenter italienischer Historiker vorkommt, der die Schuld am russischen Überfall auf die Ukraine den USA, der Nato und der Ukraine selbst gibt, ausserdem interessiere ihn sowieso nur das grosse geopolitische Spiel der Mächte und nicht «die unmassgeblichen Erfahrungen irgendwelcher Irynas».

Also der Frauen, die von russischen Soldaten vergewaltigt wurden.

Oder deren Kinder verschleppt, deren Männer gefoltert, deren Wohnungen geplündert wurden in diesem Krieg. Oder aber andrerseits der Frauen, die einem gefangenen russischen Soldaten ein Stück Brot in die Hand drücken und ein Telefon und ihm sagen: «Ruf deine Mutter in Russland an und sag ihr, dass du am Leben bist.»

Ein Youtube-Video als Initialzündung

Diese letztere Szene stammt aus einem Youtube-Video vom März 2022, kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs. Francesca Melandri hat es sich angesehen, immer wieder, erzählt sie mir bei unserer Begegnung auf der Frankfurter Buchmesse. «Warum war ich so fixiert auf dieses Video? Weil diese ukrainischen Frauen dieselben hätten sein können, die meinen Vater ebenso grosszügig behandelt hatten, obwohl er, genauso wie dieser russische Soldat, als Eindringling in ihr Land gekommen war.»

Melandris Vater hatte im Zweiten Weltkrieg als italienischer Soldat in Russland gekämpft. Die «Russinnen», von denen er immer geschwärmt hatte, waren, wie Melandri jetzt begreift, Ukrainerinnen gewesen. Der «Russland-Feldzug» der Italiener fand in der Ukraine statt. In einem Land, dessen Existenz damals ignoriert wurde und jetzt vom neuen Aggressor vernichtet werden soll.

Francesca Melandris neues Buch «Kalte Füsse» ist eine Auseinandersetzung mit Familienlegenden und nationalen Legenden, eine zornige Abrechnung mit westlicher Ignoranz und der bangen Frage: Sind wir, privilegiert und verwöhnt, bereit für härtere Zeiten, die uns möglicherweise bevorstehen?

Melandri ist eine temperamentvolle Frau, die in diesen Tagen etliche Interviews gegeben hat und wohl unzählige Male Stellung zur Einladungspolitik der italienischen Delegation und zur postfaschistischen Kulturpolitik nehmen musste. Ihr Buch und unser Gespräch sind stärker fokussiert auf den Umgang Italiens mit seiner Vergangenheit – und den Konsequenzen für die Politik heute.

In a ARMIR (Italian Army in Russia) base in the Donets an Italian wounded is taken on a Red Cross plane. Russia, August 1942 (Photo by Lamberti Sorrentino/Mondadori via Getty Images)

Die Teilnahme italienischer Gebirgsjäger, der Alpini, zu denen Melandris Vater gehörte, läuft im italienischen Geschichtsnarrativ unter dem Label «Ritirata di Russia», Rückzug aus Russland, und bildet die perfekte Kombination aus Helden- und Opferstory. Demnach sind arme italienische Soldaten, schlecht ausgerüstet, von den Deutschen im Stich gelassen worden und mussten sich im kalten Winter auf «Pappsohlen» nach Hause durchschlagen. So etwa hat es auch Melandris Vater erzählt.

Auch die Schweiz pflegt einen «entspannten» Umgang mit der Vergangenheit

Francesca Melandri stellt diese Version vom Kopf auf die (kalten) Füsse: Wer sich zurückzieht, muss erst einmal dorthin gekommen sein. Und sie legt, gestützt auf die Arbeiten jüngerer Historiker, dar, dass es sich um einen Angriffs- und Raubkrieg handelte an der Seite der Deutschen, bei dem auch italienische Soldaten Kriegsverbrechen begingen. Dass die Italiener dann rechtzeitig die Seiten wechselten, von den Deutschen zu den Alliierten, führte zur nächsten Legende, nämlich ein Volk der Partisanen gewesen zu sein.

Dass Italien einen «entspannten Umgang mit seiner Vergangenheit pflegt» – und beim Wort «entspannt» zieht Francesca Melandri ironisch die Augenbrauen hoch –, macht es allerdings nicht zur Ausnahme unter den Ländern, darauf legt sie Wert: «Die Schweizer sind auch sehr entspannt, was ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg angeht. Die Japaner wollen auch nicht so genau wissen, was sie in Nanking getan haben oder in Korea. Aber Italien ist mein Land, und deshalb beschäftige ich mich damit.»

Der Raubkrieg gegen die Ukraine wiederholt sich

Im vorigen Roman «Alle, ausser mir» etwa mit den Kolonialkriegen in Äthiopien und Libyen. Und jetzt in «Kalte Füsse» eben mit der schrecklichen Wiederholung eines Raub- und Ausbeutungskriegs gegen die Ukraine, an deren erstem Italien beteiligt war. Und eben auch ihr Vater, mit dem sie in ihrem Buch einen langen, intensiven Dialog über das Grab hinaus (Franco Melandri ist vor einigen Jahren gestorben) führt.

«Eigentlich wollte ich von ihm wissen: Papa, was ist der Krieg?» Eine Antwort kann er nicht geben, auch wenn er selbst drei Bücher über seine «russischen» Erfahrungen geschrieben hat. Wer wie Francesca Melandri im Westen im Frieden aufgewachsen ist, hat keine Vorstellung vom Krieg und kann auch nicht durch Erzählungen, Bilder oder Filme erfahren, wie er wirklich ist.

Die vielen Videos wirken vielmehr kontraproduktiv. «Viele hier im Westen nehmen den Krieg als Unterhaltungsformat wahr, als Spektakel, es hat geradezu etwas Pornografisches.» Der Westen, findet sie, habe noch gar nicht begriffen, was die Stunde geschlagen habe, die olaf-scholzsche «Zeitenwende» sei vorläufig nur ein Wort.

Was kann die Demokratie gegen den Krieg?

Auch wenn «Kalte Füsse» im Unterschied zu den vorangehenden drei Romanen kein fiktionales Werk ist, sondern ein Hybrid aus politisch-persönlich-historischer  Auseinandersetzung: Die grossartige Schriftstellerin Melandri verleugnet sich auf keiner Seite. Nicht in der Dramaturgie des Materials, nicht in der Differenziertheit der Position. Und auch nicht in dem liebevoll ausbalancierten Porträt eines Vaters, der ein Journalist war, aber auch ein Fabulierer, ein Märchenerzähler. Und dessen letzte Rätsel sie auch nicht lösen kann. Warum etwa hat er kurz vor Ende des Kriegs noch ohne Not einen faschismusfreundlichen Artikel veröffentlicht?

Am nächsten kommt ihr der Vater in einem von ihm einmal formulierten Satz in einem Moment schmerzhafter Einsicht – «dass er selbst sich zwar immer gut auszudrücken musste, aber im Grunde niemals genau wusste, was richtig war». Francesca Melandri mag dieses «authentische Bekenntnis» – es sei wichtig, nicht immer zu wissen (oder zu glauben oder zu behaupten zu wissen), was richtig und falsch sei. Sie selbst beginnt ein Buch nie mit Wissen, sondern immer mit Nichtwissen, nämlich einer Frage. Hier war die Frage: Was bedeutet Krieg? Und am Ende steht keine Antwort, sondern eine neue Frage: Was kann die Demokratie gegen den Krieg?

CREATOR: gd-jpeg v1.0 (using IJG JPEG v62), quality = 90