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Buch über Giovanni Falcone
Eine Hommage an den Mafiajäger

Richter GIOVANNI FALCONE. (Aufnahmedatum geschätzt) - Falcone machte sich in Italien einen Namen als Mafiajäger PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY; Aufnahmedatum geschätzt
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Dieses Buch beginnt und endet mit einer Explosion. 1943 reisst im Zweiten Weltkrieg eine Bombe Giovanni Riina und einen seiner drei Söhne in Corleone in den Tod. Ein weiterer Sohn wird schwer verletzt. Nur der zwölfjährige Salvatore überlebt, wundersamerweise, ohne einen Kratzer abzukriegen.

Knappe 50 Jahre später jagen 500 Kilogramm Sprengstoff, in einem Drainagerohr unter der Autobahn deponiert, Giovanni Falcone, seine Frau Francesca Morvillo und drei seiner Leibwächter in die Luft. Sie waren auf dem Weg vom Flughafen Palermo in Falcones Wochenendhaus. Mit dem «Massaker von Capaci» tötet die Cosa Nostra ihren grössten Feind. In Auftrag gegeben wurde das Attentat vom Boss der Bosse: Salvatore «Totó» Riina.

Zwischen diesen beiden Explosionen fächert Roberto Saviano, der als Journalist und Autor selbst unermüdlich gegen die Mafia ankämpft, das Leben des grössten, des ikonischen Kämpfers gegen das organisierte Verbrechen in Italien auf. Im Original heisst das Buch «Solo è il coraggio», also in etwa «Mut macht einsam»; auf Deutsch trägt es schlicht den Titel: «Falcone».

Vor allem stellt sich die Frage: Ist das wirklich ein Roman?

Akribisch und detailliert widmet sich Saviano diesem Mann, der eigentlich Seemann hatte werden wollen, bevor er auf Jura umschwenkte. Er legt Verbrechen der Mafia und Falcones Ermittlungen dagegen dar, von Beginn der Achtziger bis zu dessen Tod, und schildert auch wichtige Etappen in Falcones Karriere: Wie er etwa in Palermo von allen Bankdirektoren der Stadt Einsicht in ihre Finanzen fordert, um vermeintliche Geldströme aus dem Ausland zu identifizieren – ein Affront gegen die Banker, der sofort den Generalstaatsanwalt auf den Plan ruft.

Oder wie er den nach Brasilien ausgewanderten Mafioso Tommaso Buscetta zum Kronzeugen bekehrt. Es fallen viele Namen, ihre Verstrickungen fordern die Konzentration der Leserschaft heraus, selbst wenn ihr das Sujet nicht neu sein sollte. Vor allem aber stellt sich die Frage: Ist das, wie es auf dem Umschlag steht, wirklich ein Roman?

Italian journalist and writer Roberto Saviano takes part in a talk during the "Quais du Polar" crime fiction literature festival on March 30, 2019, in Lyon, central-eastern France. (Photo by JEFF PACHOUD / AFP)

Vielleicht insofern, als Saviano eben nicht nur erzählen will, was war, sondern dem Mann hinter den Ereignissen und seiner Motivation näherzukommen versucht. Dem Ehemann, Bruder, Freund Giovanni Falcone, dem leidenschaftlichen Schwimmer und Sammler von Entenfiguren («stumme Zeugen seiner Verzagtheit»). Aber vor allem dem Mann, der sein ganzes Leben dem Kampf gegen die Mafia widmet, wohl aus einem unerschütterlichen Glauben an Gerechtigkeit heraus, und der weiss, was das bedeutet: Damit, dass man ihn töten wolle, mit dieser «untilgbaren Hypothek auf sein Leben», habe er seinen Frieden gemacht, heisst es an einer Stelle.

Und an einer anderen ganz klar: «Man setzt keine Waisen in die Welt.» Falcone wollte nie Kinder, weder mit seiner ersten Frau Rita, mit der er in Trapani noch Feste feierte (mal mehr, mal weniger gelangweilt), noch mit seiner zweiten Frau Francesca. Zu deutlich stand ihm die Gefahr vor Augen, dass die Mafia sie ermorden könnte. Auch der Satz «Man heiratet keine Witwen» schwirrt ihm vor seiner zweiten Heirat im Kopf herum. Aber die Gefühle sind dann doch stärker.

Viereinhalb Jahre hat Saviano an seinem Roman gearbeitet, und das Erscheinungsdatum in Italien war bewusst gewählt. Er kam rechtzeitig heraus, bevor sich am 23. Mai 2022 das Massaker von Capaci zum 30. Mal jährte. Bei einem Festakt dazu sprach auch Präsident Sergio Mattarella, dessen Bruder Piersanti die Mafia 1980 ermordete. Wie viele andere kommt auch dieses Attentat im Buch vor. Dass «Solo è il coraggio» in Italien zum Bestseller wurde, spricht sowohl für seinen Autor als auch für seinen Gegenstand.

Denn hier schreibt eine Ikone des Kampfes gegen die Mafia in Italien über eine andere. Der Titel «Mut macht einsam» trifft auch auf Saviano zu. Nachdem 2006 sein Buch «Gomorrha» erschienen war, in dem er die Verstrickungen der Camorra in seiner Heimat Neapel schildert, erhielt er Morddrohungen, musste mit 27 Jahren in den Untergrund. Bis heute lebt er unter Personenschutz.

An manchen Stellen des Buches denkt man unweigerlich auch an die Situation des Autors: Etwa, wenn Falcone für ein ungestörtes Mittagessen mit seiner Frau die Leibwächter einmal Leibwächter sein lässt und sich davonstiehlt. Der Satz «Sein Bedürfnis, sie zu sehen, war zu gross», könnte auch auf Saviano zutreffen. Falcone ist sein Vorbild, und seine Bewunderung ist klar erkennbar. In einem Interview erklärt er, was er Falcone gern fragen würde: «Woher hast du die Kraft genommen?» Und: «Lohnt es sich, dass ich weitermache?»

«Mit dieser Entscheidung habt ihr mich zur Zielscheibe der Jahrmarktsbude gemacht»

Falcone liess sich nicht aufhalten. In seiner Amtszeit musste er viele Rückschläge einstecken; er wird bei wichtigen Posten übergangen, verliert nach und nach Kollegen, welche die Mafia tötet. Vor allem der Tod Rocco Chinnicis, mit dem Falcone den «Antimafia-Pool» als Zusammenschluss von Staatsanwälten im Kampf gegen das organisierte Verbrechen gründete, trifft ihn. Eben noch versammeln sich die Kollegen zu den nach Geheimrezept zubereiteten Rigatoni alla Chinnici, es wirkt «wie ein Familientreffen». Ein Blick Chinnicis löst bei Falcone blankes Entsetzen aus: «All dieses Leid, dieser stechende Schmerz, der eines Tages kommen und sein Fleisch zerschneiden, seine Knochen zerschlagen wird, steckt schon in ihm.» Nur Monate später reisst eine Autobombe Chinnici, zwei seiner Leibwächter und den Concierge seiner Wohnanlage in den Tod.

Roberto Saviano: «Falcone»; aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Roman, Hanser, München 2024, 544 Seiten, ca. 43 Franken

Bei jedem Posten, den Falcone übernimmt, weiss er, wie viele seiner Vorgänger bereits ermordet wurden. Die Angst, wann er wohl dran sein wird, verfolgt ihn. Am deutlichsten wird das im kürzesten der insgesamt 75 Kapitel. Es ist nur zehn Zeilen lang: Falcone wird nicht zum Leiter der Ermittlungsabteilung am Gericht von Palermo gewählt. Es wäre der schlüssige Karriereschritt gewesen, nach dem berühmten «Maxi-Prozess», in dem Falcone 1986 die verwickelte Struktur der Mafia nachweisen konnte und in dem erstmals Mafiosi gerichtlich zur Verantwortung gezogen wurden, aus der Schusslinie zu verschwinden. Dass er übergangen wurde, quittiert Falcone mit dem Satz: «Mit dieser Entscheidung habt ihr mich zur Zielscheibe der Jahrmarktsbude gemacht.»

Die Kapitel über Falcones Karriere wechselt Roberto Saviano mit Erzählungen aus dessen Privatleben ab. So begegnen einem in diesem Buch auch berühmte Palermitaner, wie der frühere Bürgermeister und Trauzeuge Falcones, Leoluca Orlando, oder die couragierte Fotografin Letizia Bataglia.

Und manche Abschnitte schreibt Saviano überraschenderweise aus Sicht der Mafiosi. Etwa als sie ein Attentat in Addaura vorbereiten. Falcones Leute entdecken frühzeitig die mit Sprengstoff gefüllte Sporttasche. Als im Fernsehen über den vereitelten Anschlag berichtet wird, kommentiert Boss Riina vorwurfsvoll: «Das war der richtige Moment.» Politisch mag dieser Wechsel in die Perspektive der Täter verwundern, dramaturgisch ergibt es Sinn. Vervollständigt er doch das «bigger picture»: Genauso wie die Mafia Falcone beschäftigt, beschäftigt Falcone die Mafia.

Viel Platz nehmen Vorbereitung und Verlauf des Maxi-Prozesses ein. In einer Art Bunker, extra für den Prozess auf dem Gelände des Ucciardone-Gefängnisses in Palermo gebaut, wurden dabei 344 von 474 Angeklagten zu insgesamt 2665 Jahren Haft verurteilt. Im Vorfeld gelangte Falcone zu grosser Bekanntheit in Italien, viele warfen ihm aber auch vor, er arbeite vor allem für seinen eigenen Ruhm, seine Eitelkeit. Er stört überhaupt: So beschwert sich eine Nachbarin, dass Falcones Polizeieskorte zu jeder Tageszeit mit lauten Sirenen vor dem Haus ankomme und sie an ihrem Mittagsschlaf hindere.

Roberto Savianos «Falcone» ist keine leichte Kost, was nicht an der manchmal ins Kitschige driftenden Sprache und noch weniger an Annette Kopetzkis Übersetzung liegt. Sondern an den vielen Namen, Zahlen und Fakten, die der Roman mit sich bringt. Aber es ging Saviano noch nie so sehr ums Unterhalten, sondern ums Aufklären, Erinnern, Aufrütteln. «Falcone» ist Verneigung, Zeitzeugnis und Appell gleichermassen. Im Vorwort schreibt Saviano: «Jede Szene ist ein Ausschnitt des Dramas eines ganzen Landes, wo die Wahrheit so verzerrt ist, dass sie die kühnsten Fantasien übertrifft.»