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Überleben im Scherbenhaufen

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Am 4. August um 18.08 Uhr detonieren in Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat. Es ist eine der stärksten nichtnuklearen Explosionen der Menschheitsgeschichte. Wenige Tage später reise ich mit einem Einsatzteam des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SKH) in die Hauptstadt des Libanon. Meine Aufgabe ist es, die Arbeit des Schweizer Teams und das Leben in der verwundeten Metropole zu dokumentieren. Das SKH ist das Milizkorps der Humanitären Hilfe des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Seine Expertinnen und Experten werden eingesetzt, um humanitäre Projekte der DEZA und UNO-Partner vor, während und nach Krisen und Konflikten durchzuführen.

08.30 Uhr: Ich begleite den Spezialisten für gefährliche Materialien, Thomas Hofmann, zum «Ground Zero» der Explosion, den Hafen von Beirut. Hofmann sucht zusammen mit libanesischen Soldaten in der Mondlandschaft aus Stahlträgern, zerstörten Autos und alltäglichen Gegenständen nach potenziell gefährlichen Materialien, welche durch die Detonation freigesetzt wurden.
Soldaten der libanesischen Armee vor dem zerstörten Kornsilo, das vor der Explosion neben dem Lagerhaus 12 mit dem eingelagerten Ammoniumnitrat stand.
Porsche, BMW, Mercedes: Zerstörte Luxusautos, welche zum Zeitpunkt der Explosion auf die Importverzollung warteten.
Der zerstörte Hafen von Beirut mit dem 125m weiten und 45m tiefen Explosionskrater.

«Die Explosion hat mir einzig das Leben gelassen, der Rest ist ein Scherbenhaufen.»

Waleed
10.15 Uhr: Ich habe mich dem SKH-Team von ArchitektInnen und Baustatikern angeschlossen. Sie evaluierten die Schäden am «La Quarantaine». Das Spital im gleichnamigen Quartier war weniger als ein Kilometer von der Explosion entfernt und ist schwer beschädigt. Die Schweizer Experten evaluieren anhand der strukturellen Schäden, welche Gebäude drohen einzustürzen.
Die Schweizer Botschafterin Monika Schmutz, die bei der Explosion selber verletzt wurde, besucht das SKH-Team während der Arbeit im Quarantaine Spital.
11.45 Uhr: Ich sehe mich im umliegenden Quartier des Spitals um. Überall auf den Strassen liegen Scherben. Nicht eine einzige intakte Fensterscheibe ist mehr zu sehen in den dicht verbauten Strassen.
12.15 Uhr: Ich gehe in ein Wohnhaus im Quarantaine Quartier. Das Treppenhaus erinnert an eine Filmkulisse eines Horror-Slasherfilms. Die Handabdrücke in Blut dokumentieren den Weg der taumelden Menschen von den Wohnungen auf die Strasse.
13.45 Uhr: Ich verlasse das Quarantaine Quartier in Richtung Innenstadt. Ich komme wieder am Hafen vorbei, im Becken liegt ein Schiff, welches durch die Wucht der Explosion kenterte und auf die Hafenmauer aufschlug.
15.00 Uhr: In der durch die Explosion beschädigten Borj Hammoud Grundschule treffe ich den Teamchef Ivan Vuarambon (links), welcher zusammen mit Architekt Fabian Hutter den Schaden am Gebäude und den leeren Klassenzimmern begutachtet.
16.15 Uhr: Die nächste Schule, welche die zwei SKH-Spezialisten besuchen, ist die Märtyrer-Mufti-Hassan-Khaled-Grundschule. Das 130-jährige Gebäude wurde im neunzehnten Jahrhundert als Palast für einen Mufti erbaut und durch die Druckwelle schwer beschädigt. Ivan interessiert sich besonders für das Dach des historischen Gebäudes und meint: «Ob das Dach beschädigt ist, macht in den Reparaturkosten einen Unterschied von entweder zehntausend oder hunderttausend Franken aus.». Ich nehme meine Drohne aus dem Rucksack und mache eine Serie von Luftaufnahmen des Dachs. Die Videos und Bilder werden später im Hauptquartier ausgewertet.
17.45 Uhr: Die Teams des SKHs kehren zurück ins Hauptquartier, ich gehe zu Fuss weiter in das Quartier Remeil. Remeil erstreckt sich parallel zum Hafen von Beirut und hat die volle Wucht der Explosion abbekommen. Ich nutze die Zeit bis zum Sonnenuntergang, um zu fotografieren.
18.30 Uhr: Im Quartier Remeil herrscht auch 6 Tage nach der Detonation noch ein Zustand der Benommenheit unter den Einwohnern.
18.10 Uhr: Ich höre Chorstimmen von einer Seitenstrasse und mache mich auf den Weg zum Ursprung der Musik. Durch ein Quartier mit mehrheitlich christlichen Einwohnern fährt ein Auto mit einer aufmontierten Maria-Statue, welche das Jesuskind auf dem Arm trägt. Von der Ladefläche aus wird das Quartier mit arabisch gesungenem Chorgesang beschallt. Viele der Passanten knien nieder oder brechen beim Anblick der vorbeitollenden Statue in Tränen aus.
Am nächsten Tag besuche ich das SKH-Medical-Team im Saint George Universitätsspital. Das 300-Betten-Spital wurde durch die Druckwelle stark beschädigt, das Pflegepersonal versorgte unmittelbar nach der Explosion hunderte Verwundete auf dem Parkplatz. Der Spitaldirektor Dr. Joseph Haddad verkündete einen Tag nach der Explosion: «Es gibt kein St. George Spital mehr, es ist zerstört, total zerstört.». Zehn Tage nach der Detonation hat das Spital mit der Unterstützung des Schweizer Teams aus Logistikern, Ärzten und Pflegepersonal die Palliativpflege wieder aufgenommen. Das 1.5 Tonnen medizinische Material wurde durch die Schweizer Luftwaffe ein Tag zuvor eingeflogen. Einer der ersten Patienten ist der neugeborene Bub einer syrischen Flüchtlingsfamilie.
Gegenüber des St. George Spitals treffe ich vor einem zerstörten Wohnblock  Waleed. Der ältere Herr spricht fliessend Französisch und Englisch. Er lädt mich ein, seine Wohnung zu besichtigen. Seit 25 Jahren lebt Waleed in diesem Apartment. Letztes Jahr hatte er genügend Geld zusammen, um es zu renovieren und neue Möbel zu kaufen. Er steht am Fenster im Wohnzimmer mit Blick auf den Hafen. Ich frage ihn, wo in der Wohnung er war, als das Ammoniumnitrat explodierte. «Ich war im Schlafzimmer auf der anderen Seite der Wohnung. Die Explosion hat mir einzig das Leben gelassen, der Rest ist ein Scherbenhaufen.».