Sachbuch über TodesfälleEinem Gerichtsmediziner ins Nähkästchen geschaut
Florian Klenk seziert in «Über Leben und Tod» Wissen und Geheimnisse des legendären Wiener Gerichtsmediziners Christian Reiter.
- Christian Reiter steht im Mittelpunkt von Florian Klenks neuem Buch.
- Reiter kritisiert mangelnde Schulung in Dokumentation krimineller Verletzungen.
- Der Fall Marcus Omofuma löste grosse Kontroversen in Österreich aus.
- Mit seiner Haaranalyse Beethovens provozierte Reiter andere Experten.
Verbrechen, True Crime, Kriminalfälle haben Hochkonjunktur, nicht nur im Fernsehen, sondern auch in Podcasts, historischen Rückblicken und Sonderseiten in den Medien. Gerichtsmediziner fehlen in kaum einem Krimi; meist haben sie einen morbiden Humor und ein gutes Herz unter einer rauen Schale.
Insofern passt der sehr reale Pathologe und Gerichtssachverständige Christian Reiter, Jahrgang 1955, den sich der «Falter»-Chefredaktor und Autor Florian Klenk zum Helden seines neuen Buchs auserkoren hat, sehr gut zum Klischee von Experten, die menschlichen Abgründen und medizinischen Absonderlichkeiten nachspüren. Ein Held ist Reiter deshalb, weil Klenk, eine durchaus selbstbewusste Grösse in der österreichischen Medienlandschaft, zugunsten Reiters in den erzählerischen Schatten tritt.
Klenk schreibt zwar in der Ich-Form und ist auch als Berichterstatter in seinem anekdotenreichen und zugleich wissenschaftlich präzisen Sachbuch sehr präsent. Aber seine Besuche in Reiters Büro und Labor, in seinen Sammlungen und Sektionssälen, die Begleitung zu Auftritten vor Gericht und die gemeinsamen Erkundungsgänge durch Wiens pathologisch-anatomische Sammlungen stellen den berühmten Forensiker und Rechtsmediziner in den Mittelpunkt. Und viele seiner Geschichten auch.
Das macht die Lektüre von «Über Leben und Tod – In der Gerichtsmedizin», obwohl sie sich mit Grausamkeiten und Fliegenlarven, Missbildungen und Misshandlungen, Todesarten und Todessehnsüchten befasst, bisweilen auf unerwartete Weise heiter. Denn Reiter und in seinem Gefolge Klenk erzählen vom Tod als Teil des Lebens, von einem natürlichen Vorgang, der enttabuisiert gehört und nicht verdrängt.
Reiter ist eine internationale Grösse seines Fachs, und wenn er Beethovens Locken analysiert oder die Toten eines Flugzeugabsturzes der Lauda Air in Thailand seziert, wenn er Massenmörderinnen überführt oder die Präparierung von Mumien erklärt, dann ist das zugleich eine wunderbare Reise durch die Menschheitsgeschichte.
Christian Reiter kritisiert Arbeit von Polizei und Universitäten
Wobei mit Kritik an den Umständen in der Gerichtsmedizin und der Polizeiarbeit nicht gespart wird. Reiter kritisiert etwa, dass Polizisten und Ärzte viel zu wenig darüber wüssten, wie man Verletzungen, die auf Verbrechen hindeuten könnten, dokumentiere – sodass viele Täter straffrei ausgingen. Er moniert ebenso, dass es an vielen medizinischen Universitäten keine verpflichtenden gerichtsmedizinischen Vorlesungen mehr gebe, dass zu wenig Pathologen ausgebildet würden, dass Gewalt in Gerichtsverfahren zu oft verharmlost werde.
Aber im Mittelpunkt des Buchs stehen «Fälle» – etwa die Geschichte von Mmadi Make, besser bekannt als Angelo Soliman, im 18. Jahrhundert als Sohn eines afrikanischen Fürsten geboren, als Sklave verschleppt, an Araber verkauft, gegen ein Pferd eingetauscht. Er kam als Diener nach Wien und machte eine erstaunliche Karriere als Universalgelehrter, Erzieher und Teil der High Society. Als Schwarzer wurde er nach seinem Tod aber Opfer einer «würdelosen Schauergeschichte», wie Klenk schreibt; der Leichnam wurde beschlagnahmt, gehäutet, präpariert und ausgestellt; die Haut auf ein Holzgestell gespannt.
Christian Reiter machte sich auf die Suche nach einem Make zugeschriebenen, abgetrennten Kopf, analysierte mit modernsten technischen Mitteln dessen Herkunft. Er wies nach, dass es sich um eine andere Person handelte – und empörte sich öffentlich über die bis in die Gegenwart reichende, postkoloniale, rassistische Zuschreibung von biologischen Merkmalen.
Marcus Omofuma starb bei seiner Abschiebung
Das brachte ihm durchaus Zustimmung ein – ganz anders als etwa der Fall des Marcus Omofuma, eines 25-jährigen Asylbewerbers aus Nigeria, der bei einem Abschiebeflug aus Wien nach Sofia ums Leben kam. Er war wie ein Paket verklebt und gefesselt gewesen, hatte um Luft gerungen und stark geschwitzt. Augenzeugen und Mediziner gingen davon aus, dass der Nigerianer durch die brutale Fesselung erstickt war. Der Fall löste weit über Österreich massive Empörung aus. Die Verantwortlichen brandmarkten Omofuma als Drogendealer, als Mafiaboss. Und Reiter sollte in einer total aufgeheizten Stimmung die Todesursache klären.
Reiter sagt Klenk, der Fall habe ihn traumatisiert, weil seine Arbeit «instrumentalisiert» worden sei. Er hatte als Todesursache nicht «Ersticken» diagnostiziert, sondern «Herzversagen infolge einer vorbestehenden Herzmuskelentzündung in Kombination mit massiver Anstrengung und Aufregung». Das war den einen zu wenig und den anderen zu viel. Dabei hatte Reiter auch geschrieben, das Verkleben des Mundes habe einen «qualvollen Zustand» herbeigeführt. Der Wissenschaftler war in die Mühlen der Politik geraten.
Klenk berichtet, neben netten Kuriositäten, klassischen Mordfällen und historischen Recherchen, auch von einem weiteren Politikum: der Geschichte des Deutsch-Libanesen Khaled al-Masri. Der war vom US-Geheimdienst mit einem Mitwisser der Attentate vom 11. September verwechselt, in Mazedonien entführt, gefoltert – und schliesslich wieder freigelassen worden. Forensiker hatten damals unter anderem anhand einer Haaranalyse nachweisen können, dass al-Masris Geschichte stimmte.
Der Politskandal führt den Autor gemeinsam mit Reiter zu Ludwig van Beethoven – und zeigt, warum die Wahrheit manchmal, sprichwörtlich, um Haaresbreite übersehen werden kann. Anhand von Beethovens üppigen Locken hatte zahlreiche Forscher mittels Haaranalysen immer wieder herauszufinden versucht, woran er gestorben sei und ob sich ein Hinweis auf seine frühe Taubheit finde.
Reiter meinte, nachweisen zu können, dass eine Locke, die in den USA aufgetaucht war, darauf verwies, dass eine ärztliche Behandlung des schwerkranken Beethoven mit damals üblichen Bleipflastern seinen Tod zumindest beschleunigt habe. Allerdings kam 2022 massiver Widerspruch eines anderen Experten, der wiederum nachgewiesen haben will, dass die von Reiter untersuchte Locke gar nicht vom berühmten Komponisten stammt.
So ist «Über Leben und Tod» am Ende auch eine Erzählung davon, dass auch renommierte Wissenschaftler wie Christian Reiter einmal irren können.
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