Strafanzeige gegen Orhan PamukTürkei geht gegen Nobelpreisträger vor
Der weltberühmte Autor soll Staatsgründer Kemal Atatürk beleidigt haben. Es ist nicht das erste Mal, dass Pamuk vor ein türkisches Gericht gezerrt wird. Denn er ist nicht nur ein begnadeter Erzähler, er ist auch ein politischer Mensch.
Es spielte sich auch in diesem Jahr genauso ab, wie es seit vielen Jahrzehnten Usus ist. Morgens um 9.05 Uhr heulten die Sirenen, stand landesweit der Verkehr still, blieben Passanten regungslos stehen, stoppte der Betrieb in öffentlichen Einrichtungen. Der 10. November, um genau 9.05 Uhr – Datum und Uhrzeit markieren den Tod von Kemal Atatürk, dem Übervater der türkischen Republik. Die Verehrung des Staatsgründers – oder der Personenkult um ihn – ist Teil der DNA der Türkei.
Beleidigung oder das Verächtlichmachen des «Vaters der Türken» werden verfolgt, das Gesetzbuch kennt einen eigenen Paragrafen: «Das Gesetz über Verbrechen am Andenken Atatürks.» Gestraft wird manchmal sogar ohne Gesetzbuch: Ein Passant, der dieses Jahr in Istanbuls Grossem Basar während der Schweigeminute ungerührt weiterlief, bekam Hiebe von umstehenden Besuchern und Ladenbesitzern.
Istanbul als Quelle der Inspiration
Aber ein Roman ist ein Roman und ein Literaturnobelpreisträger auch nicht irgendwer. Der weltweit berühmte Autor Orhan Pamuk rückt nun dennoch in den Kreis der angeblichen Atatürk-Beleidiger auf. Weil eine der Figuren in seinem neuesten Werk «Nächte der Pest» von Namen und Beschreibung her – gewollt oder ungewollt – an den Staatsgründer erinnert, hat der Rechtsanwalt Tarcan Ülük vor einiger Zeit Strafanzeige wegen «Beleidigung Atatürks und der türkischen Fahne» eingereicht. Ülük, bisher weder weltbekannt noch mit dem Nobelpreis geehrt, stammt aus der für ihren strammen Atatürkismus bekannten Mittelmeerstadt Izmir. Er findet, dass der Schriftsteller «im Volk Hass und Feindschaft geschürt hat, indem er im Roman Atatürk beleidigt».
Die bereits einmal schon abgewiesene Klage kam nun vor ein Gericht in Istanbul. Dort lebt Pamuk. Istanbul und Pamuk, das ist ein und dasselbe: Der 69-jährige Romancier kam als Sohn eines Fabrikanten zur Welt und lebt, abgesehen von etwa drei Jahren in den USA, noch immer am Bosporus. Er hat elf Romane geschrieben, die Stadt ist eine der Quellen seiner Inspiration.
In eine Reihe mit den grossen Namen des 20. Jahrhunderts
Literaturkenner stellen den Autor, der sich in seinen jungen Jahren an Malerei und Architektur versucht hat, mit seiner zwischen westlich-europäischer und orientalisch-türkischer Erzähltradition hin und her wechselnden Romantechnik in eine Reihe mit den grossen Namen des 20. Jahrhunderts, vergleichen ihn mit Franz Kafka oder Jorge Luis Borges. Wie klassisch der Autor Pamuk tickt, hat er selbst formuliert: «Die wundersamen Mechanismen der Romankunst dienen dazu, der ganzen Menschheit unsere eigene Geschichte als die Geschichte eines anderen zu unterbreiten.»
Aber Pamuk ist nicht nur ein begnadeter Erzähler, er ist auch ein politischer Mensch. Er hat sich für verfolgte Kollegen starkgemacht, etwa für den vor Gericht gezerrten kurdisch-stämmigen Yasar Kemal, den wichtigsten Autoren des Landes. Oder für Salman Rushdie, den die Mullahs im Iran töten wollten, weil er sich mit seinen «Satanischen Versen» die Freiheit genommen hatte, den Islam nicht ganz so ernst zu nehmen wie die Eiferer in Teheran. Pamuk selbst eckte mit seinem Roman «Schnee» an, in dem Islamisten, Nationalisten und Militär keine gute Figur machen.
«Man hat hier dreissigtausend Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen.»
Schon damals gab es Ärger. Danach hat Pamuk ein Sakrileg begangen und das grösste Tabu seines Heimatlandes angesprochen: den Massenmord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. «Man hat hier dreissigtausend Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen.» Es folgten Morddrohungen und ein Verfahren wegen «öffentlicher Herabsetzung des Türkentums», was aber eingestellt wurde. Pamuk äussert sich inzwischen kaum noch öffentlich. Zur Klage des eifernden Anwalts sagte er nur: «Ich habe in meinem Roman nichts geschrieben, was auf Atatürk deutet.»
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