Leitartikel zur US-PolitikTrump ist eine Warnung für alle Demokraten
Der frühere US-Präsident hat die demokratische Tradition der USA systematisch ausgehöhlt. Andere Demokratien sind besser vor solchem Machtmissbrauch geschützt. Aber ganz gefeit ist niemand.
Es gibt keinen besseren Moment als jetzt, sich Zeit zu nehmen für einige Gedanken über Donald Trump, gerade für Schweizerinnen und Schweizer. Am 1. August, einem für die Eidgenossenschaft symbolisch nicht unbedeutenden Datum, wurde gegen ihn die bisher schwerwiegendste Anklage eingereicht. Weil er als Präsident versucht hat, die Wahl seines Nachfolgers zu verhindern, also die verfassungsmässige Ordnung der Vereinigten Staaten umzustürzen. Jener Verfassung, die 1787 einen Rahmen schuf für die amerikanische Revolution, dieses faszinierende politische Projekt, das die Geschicke Europas und insbesondere der Schweiz mitgeprägt hat.
Die direktdemokratischen Elemente in einigen Schweizer Kantonen hatten die Gründerväter der USA inspiriert, als diese über die ideale Staatsform nachdachten. Deren Arbeit diente wiederum den Schweizern als Blaupause, als diese nach den Sonderbundskriegen den modernen Schweizer Bundesstaat schufen. Schwesterrepubliken sind die Schweiz und die USA seither, verbunden durch Parallelen in der Organisation ihrer Gemeinwesen. An erster Stelle steht da der ausgeprägte Föderalismus, der die Entscheidungsgewalt möglichst nahe bei den Bürgern platziert und Entscheidungsprozesse kompliziert und langsam werden lässt. Ein System mit vielen Bremsen und Hürden, das alles verlangsamt und austariert, damit möglichst niemand die Macht an sich reissen und einfach über die anderen hinwegregieren kann.
Donald Trump hat bewiesen, dass alle schriftlichen Vorkehrungen nicht genügen, um einen Missbrauch der Macht zu verhindern.
In den Geburtsjahren der Vereinigten Staaten war noch alles andere als klar, dass die Revolution diese Richtung nehmen würde. Als General der revolutionären Streitkräfte erarbeitete sich George Washington eine Machtposition, die viele erwarten liess, dass er sich als starker Mann an die Spitze des neuen Landes setzen würde. Doch nach dem Sieg über die britische Kolonialmacht gab Washington sein Mandat an die zivile Autorität, den Kongress, zurück. Als er zum ersten Präsidenten gewählt wurde, verabschiedete er sich nach zwei Amtszeiten, obwohl vor allem im von Monarchien geprägten Europa die Erwartung war, er werde als eine Art König weiterregieren. Die Selbstbeschränkung Washingtons wurde zur Tradition, der Verfassung aber erst viel später schriftlich hinzugefügt. Seit 1951 dürfen US-Präsidenten nicht mehr als zwei Amtszeiten im Weissen Haus verbringen.
Nun hat Donald Trump bewiesen, dass alle schriftlichen Vorkehrungen nicht genügen, um einen Missbrauch der Macht zu verhindern, wenn jemand gewillt ist, sich konsequent über das Gesetz zu stellen. Trump will nach eigenem Gutdünken schalten und walten, er redet darum systematisch alle staatlichen Institutionen schlecht, eifrig sekundiert von Parteifreunden, die sich davon ein Stück von Trumps Kuchen erhoffen. Er könne auf der 5th Avenue in New York einen Menschen erschiessen, ohne eine Wählerstimme zu verlieren, sagte er im Wahlkampf 2016. Als er 2020 verlor, behauptete er einfach, die Wahl sei gestohlen. Inzwischen hat er «die Beendigung aller Regeln, Regulierungen und Artikel, sogar jener in der Verfassung» verlangt. Das war im Dezember 2022. Alle jene, die Trump als Opfer sehen, täten gut daran, diese Zitate nachzuschlagen und die jüngste Anklageschrift gegen ihn im Detail zu lesen.
Trumps Verteidigungsstrategie besteht im Moment allen Ernstes darin, zu behaupten, er habe tatsächlich daran geglaubt, ihm seien die Wahlen gestohlen worden. Deswegen habe er lediglich ein paar alternative Rechtstheorien verfolgt, um das Resultat anzufechten. Als Präsident der Vereinigten Staaten, der geschworen hatte, Verfassung und Rechtsstaat zu schützen, will er sich guten Glaubens auf die Einschätzung einer Handvoll Juristen verlassen haben, die er selbst als «verrückt» bezeichnet hatte, während er sämtliche anderen Meinungen in den Wind schlug. Vorgetragen von seinen Kampagnenmitarbeitern, den Juristen im Weissen Haus, seinem Justizminister, seinem Vizepräsidenten und sämtlichen Wahlbeamten in den Bundesstaaten bis hin zu allen Gerichtsinstanzen.
Der gemächliche Schweizer Föderalismus ist nicht gefeit vor Erosion.
Die Schweiz hat sich zwar besser als die USA dagegen abgesichert, dass ein Einzelner eine solche Machtposition erlangen und zu einer ähnlichen Gefahr für das Gemeinwesen werden kann – unter anderem, weil sie keinen starken Präsidenten kennt, sondern einen Bundesrat aus sieben Mitgliedern aus verschiedenen Parteien. Aber der gemächliche Schweizer Föderalismus ist nicht gefeit vor Erosion. Auch in der Schweiz gibt es jene, die politische Gegner verteufeln, den 1. August zum «Tag des Widerstands» ausrufen, die Demokratie nur als Stimme der Mehrheit verstehen und die Gewaltenteilung ausschalten möchten, die tausend Gründe finden, warum die auf Konsens ausgerichteten Schweizer Verfahren abgekürzt, umgangen oder gleich ganz abgeschafft werden sollten, die die für die Demokratie wichtige Medienlandschaft mit dem Bulldozer plattmachen wollen.
Auch die Amerikaner wähnten ihr Land in Sicherheit, als sie Trump noch im Frühjahr 2016 als Lachnummer verhöhnten. Inzwischen steht er als Angeklagter vor den Richtern, obwohl allen klar ist, dass sich das Problem Trump nicht in einem Gericht lösen lässt. Ob die Wahlen 2024 eine politische Klärung bringen werden, ist alles andere als sicher, Trump hat durchaus Chancen, noch einmal zu gewinnen. Viele Amerikaner sind ratlos, jetzt wünschen sie sich, sie hätten ihren politischen Traditionen besser Sorge getragen. Das Lachen ist ihnen vergangen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.