Neue Studie überrascht Die Hälfte der Weltbevölkerung hat keinen sicheren Zugang zu Trinkwasser
Neue Daten von Schweizer Forschenden überraschen und stellen frühere Schätzungen der UNO infrage.
«Wir schätzen, dass weltweit über vier Milliarden Menschen keine angemessene Trinkwasserversorgung haben», sagt Esther Greenwood vom eidgenössischen Wasserforschungsinstitut Eawag. Das ist mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Die Erstautorin einer neuen Studie überrascht mit diesen neuen Daten: Noch vor zwei Jahren schätzten die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) in einem Bericht, dass im Jahr 2022 etwa 2,2 Milliarden Menschen immer noch nicht über eine sichere Trinkwasserversorgung verfügen. Nun sollen es doppelt so viele Menschen sein.
Wie ist diese grosse Differenz zwischen den neuen Daten der Studie und der UNO-Organisationen zu erklären? WHO und Unicef verwenden bei ihren Schätzungen weniger strenge Kriterien, weil Informationen zu Wasserqualität, Zugänglichkeit der Wasserquelle und Wasserangebot vielfach fehlen. «Hinzu kommt, dass für die Hälfte der Weltbevölkerung keine Daten zur Qualität des Wassers vorhanden sind», sagt Eawag-Forscherin Esther Greenwood.
Deshalb haben die Eawag-Forschenden einen anderen Ansatz gewählt: Sie verwendeten Daten von Befragungen zwischen 2016 und 2020 der Unicef in über 60’000 Haushalten in 27 Ländern mit niederem und mittlerem Einkommen. Die Daten ergaben unter anderem einen Überblick, wie lange die Menschen gehen müssen, um Wasser zu holen, wie verschmutzt das Trinkwasser ist und ob es eine Wassernot in der Region gibt. Das sind für die Forschenden die Hauptkriterien, um von einer sicheren Trinkwasserversorgung zu sprechen.
Zudem verwendeten sie Satellitendaten, um zum Beispiel die klimatischen Bedingungen in den Regionen abschätzen zu können. Eine wesentliche Rolle spielten zudem neben dem Klima die Geologie, die Vegetation, aber auch die Bevölkerungsdichte oder der Anteil von Landwirtschaftsland, städtischen Flächen und Wäldern.
2 Milliarden Menschen ohne sauberes Wasser
Die Eawag-Forschenden entwickelten schliesslich neue Modelle, die durch maschinelles Lernen trainiert wurden, um aus den Informationen von den 27 Ländern und den Satellitendaten ein Bild für weitere 135 arme und ärmere Staaten zu erhalten. «Unsere Berechnungen haben zwar grosse Unsicherheiten, dennoch fühle ich mich sicher mit diesen Schätzungen», sagt Esther Greenwood. Sie seien plausibel.
So zeigen die neuen Daten zum Beispiel, dass schon etwa 2 Milliarden Menschen unter Trinkwasser leiden, das mit Fäkalien verschmutzt ist. «Nimmt man noch die anderen Kriterien hinzu, ist die Zahl von vier Milliarden Menschen ohne Zugang zu einer sicheren Trinkwasserversorgung durchaus realistisch», sagt die Forscherin.
Die Arbeit, die heute in der renommierten Fachzeitschrift «Science» publiziert wurde, ist breit abgestützt. Sie entstand in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation, dem Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut und der Universität Basel. «Ich denke, dass unsere Studie dazu beitragen kann, das Bewusstsein für den Zustand der Trinkwasserversorgung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu schärfen und aufzuzeigen, wo es Datenerhebungen und finanzielle Investitionen braucht, um die Situation zu verbessern.»
Rückschlag für UNO-Ziel
Die neue Schätzung kann als Rückschlag für die weltweite Kampagne der UNO gewertet werden: Die Organisation verabschiedete 2015 die «2030er-Agenda für nachhaltige Entwicklung». Das sechste der siebzehn Ziele bezieht sich auf die weltweite Wasserversorgung: Jeder Mensch soll bis 2030 Zugang zu «einwandfreiem und bezahlbarem» Trinkwasser haben.
Die neuen Daten stellen jedoch auch die Erfolgskontrolle der UNO infrage: Vor den Nachhaltigkeitszielen gab es die Millennium-Entwicklungsziele. Auch da hatte man ehrgeizige Pläne: Bis 2015 sollte die Zahl der Menschen, die noch nicht über einen Zugang zu sauberem Trinkwasser verfügten, halbiert werden. Vor zwölf Jahren schrieb die WHO im Report «Progress on Drinking Water and Sanitation», das Millennium-Ziel sei erfüllt: 6,1 Milliarden Menschen könnten nun eine «verbesserte Trinkwasserquelle» nutzen. Das war offensichtlich damals eine Schönfärberei.
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