Rechnung über 150’000 FrankenAls die Mutter stirbt, betreibt das Schweizer Spital ihre Familie
Ohne Versicherungsdeckung können Patienten in finanzielle Notlage geraten. Das zeigt das Beispiel einer Iranerin. Es kann aber auch Schweizerinnen und Schweizer treffen.
Die Familie freut sich auf das Wiedersehen in der Schweiz – geplant sind Feiern zum Geburtstag der Tochter und zum iranischen Neujahrstag am 21. März 2019. Doch stattdessen kommt es zu einer tragischen Wendung mit einem Nachspiel, das die Familie bis heute belastet.
Die Eltern reisen am 12. März 2019 für einen einmonatigen Aufenthalt aus dem Iran an, um ihre Tochter zu besuchen. Deren Ehemann stammt ebenfalls aus dem Iran und studiert in Zürich.
Wenige Tage nach der Ankunft klagt die Mutter über Rückenschmerzen. Bei Untersuchungen stellen Ärzte im Stadtspital Triemli in Zürich Probleme mit der Niere fest. Die Tochter unterschreibt am 19. März ein Formular zur «Übernahme der Behandlungskosten». Auf dem Formular, das dieser Redaktion vorliegt, sind in einer «provisorischen Kostenaufstellung» eine Fallpauschale von 10’500 und Arzthonorare von 3000 Franken aufgeführt. Gemäss einem Hinweis auf dem Formular werden «die definitiven Kosten erst nach Behandlungsende bekannt».
Wie die Angehörigen berichten, erfahren sie am 21. März erstmals, dass die Mutter an Lymphdrüsenkrebs erkrankt ist. Gemäss ihren Ausführungen äusserten sie gegenüber den zuständigen Ärzten zwei Bedenken: Erstens ging es um die Krankheit und zweitens um die Behandlungskosten, die in der Schweiz sehr hoch ausfallen können. Zu diesem Zeitpunkt wäre für die Patientin eine Rückreise in einem Linienflug möglich gewesen, sagen die Angehörigen. Im Iran hätte sich die Patientin aufgrund der dortigen Krankenversicherung gratis behandeln lassen können.
Kam es zu einem Missverständnis?
Doch der zuständige Arzt habe gesagt, dass gute Heilungschancen bestünden und dass sich die Familie nicht um das Geld sorgen müsse – alles sei gedeckt. Ob bei dieser mündlichen Zusicherung ein Missverständnis vorliegt, ist unklar. Das Stadtspital Triemli bestreitet offenbar diese Zusage. Mit Verweis auf das Arztgeheimnis will sich das Spital gegenüber dieser Redaktion aber nicht zum konkreten Einzelfall äussern.
Dann verschlechtert sich der Gesundheitszustand der Patientin dramatisch. Die Angehörigen machen dafür eine schwere Spitalinfektion und die Chemotherapie verantwortlich. Das Bild sei erschreckend gewesen: Infektionen, Dialyse, Komplikationen mit Leber und Knochenmark – die kaum noch ansprechbare Mutter sei im Delirium gewesen und habe fast durchgehend geschlafen.
Die Angehörigen berichten, dass das Spital Ende März auf einmal Kosten im Umfang von mehr als 100’000 Franken nennt und zur Zahlung auffordert. Bei Nichtbezahlung werde die Patientin mit der Rega in den Iran geflogen.
Die Familie beteuert, dass sie unmöglich so viel aufbringen kann. Am 4. April bezahlte sie 2000 Franken – «alles, was wir damals hatten». Am 18. April 2019 wird die Patientin mit der Rega und gemeinsam mit ihrem Ehemann in den Iran zurückgebracht. Dort stirbt sie wenig später am 1. Mai.
Gut anderthalb Monate später erhält die Tochter in der Schweiz eine Rechnung des Stadtspitals Triemli über einen Betrag von 151’000 Franken. Die Angehörigen begleichen die in der ersten Kostenaufstellung geforderten 13’500 Franken.
Verfahren gegen den Witwer und die Tochter
Über den Restbetrag von knapp 140’000 Franken hat das Stadtspital Triemli Anfang Februar dieses Jahres eine Betreibung gegen die Tochter eingeleitet. Gegen den Witwer im Iran hat das Spital ein internationales Inkassobüro beauftragt, um den offenen Betrag einzutreiben.
Bettina Umhang, Anwältin und Expertin für Patientenrechte bei der Kanzlei Advo5 in Zürich, bezweifelt, dass das Triemli-Spital diese Forderung durchsetzen kann. Das Problem sieht sie in der Zeit nach Beginn der Behandlung bis zum starken Kostenanstieg. «Gemäss den mir vorliegenden Akten hat das Spital die Angehörigen erst am 31. März 2019 über die explodierenden Kosten informiert.»
Wirtschaftliche Aufklärungspflicht verletzt?
In der Kostenaufstellung vom 19. März ist noch von 13’500 Franken die Rede. In diesem Formular wird zwar darauf verwiesen, dass die Zahlen provisorisch und die definitiven Kosten erst nach Abschluss der Behandlung bekannt seien. Doch laut Bettina Umhang hat das Spital trotzdem seine wirtschaftliche Aufklärungspflicht verletzt, wenn es Ende März auf einmal Behandlungskosten von über 100’000 Franken geltend macht. «Ein Dienstleister einer anderen Branche kann auch nicht 13’500 offerieren und dann plötzlich über 100’000 Franken in Rechnung stellen», sagt die Anwältin.
Dieser Redaktion liegt ein Schreiben des Triemli-Spitals vor, in dem es seine Forderung gegenüber den Familienangehörigen mit Verweis auf die Patientendokumentation untermauert. Auch laut diesem Schreiben wurden die Angehörigen erst Ende März – als die Patientin schon auf der Intensivstation war – vor den hohen Kosten gewarnt.
Hinweis zum Kostenrisiko wäre ausreichend
Gemäss der wirtschaftlichen Aufklärungspflicht von Ärzten und Spitälern hätten die Patientin und ihre Angehörigen gleich von Beginn weg ausdrücklich auf das hohe Kostenrisiko hingewiesen werden müssen, sagt Bettina Umhang. So zum Beispiel mit einem Hinweis, dass bei Komplikationen Behandlungskosten von bis rund einer halben Million Franken möglich sind.
Hätten sie das von Beginn an gewusst, wäre die Mutter zur Behandlung sofort in den Iran zurückgereist, beteuern die Tochter und ihr Ehemann. Die Forderung des Spitals übersteige das Einkommen, das beide Eltern zusammen im Verlauf ihres gesamten Lebens im Iran als Lehrer verdient hätten, sagen sie.
In einer allgemeinen Stellungnahme unterscheidet das Stadtspital Triemli zunächst zwischen nicht dringenden und notfallmässigen Behandlungen. Bei nicht dringenden Eingriffen muss die Finanzierung vorab sichergestellt sein, sonst findet die Behandlung nicht statt. Laut Angehörigen hätte die Patientin zu Beginn der Behandlung noch alleine in den Iran zurückreisen können. Geht man hingegen von einer Notfallbehandlung aus, muss keine Kostengutsprache vorliegen.
Das Spital betont, korrekt informiert zu haben
Weiter verweist das Spital in seiner Stellungnahme darauf, dass Patienten oder deren Angehörige beim Eintritt eine Erklärung zur Kostenübernahme unterzeichnen. Sie würden laufend über die Kostenentwicklung informiert. Auch der Rücktransport ins Heimatland sei ein Thema, um Kosten zu vermeiden.
Bei fehlendem Geld versuche das Spital, ausstehende Kosten über das kantonale Sozialamt zu erhalten. Doch dafür sei der Nachweis erforderlich, dass das Geld nicht verfügbar sei. Im Fall einer verstorbenen Patientin können nach Schweizer Recht deren Erben belangt werden, da sie mit dem Erbe auch Schulden übernehmen. Im vorliegenden Fall muss aber womöglich iranisches Erbrecht berücksichtigt werden. Das müssten Experten prüfen.
Angehörige äussern sich nicht zur Erbschaft
Die Angehörigen wollen sich nicht zu erbrechtlichen Angelegenheiten äussern. Es scheint so, als würden dabei Familienbande eine Rolle spielen: Der Vater im Iran soll nicht sein Hab und Gut verlieren. Die Angehörigen stellen sich auf den Standpunkt, dass sich die Erbfrage gar nicht stellt, weil das Spital die Aufklärungspflicht verletzt habe. Diese Meinung vertritt auch Anwältin Bettina Umhang, die den Fall im Auftrag der iranischen Familie geprüft hat.
Die Tochter der Verstorbenen hat gegen die Betreibung Rechtsvorschlag erhoben. Nach Einschätzung von Bettina Umhang wird das Spital seine Forderung auf zivilrechtlichem Weg durchsetzen müssen. Und da seien die Hürden im vorliegenden Fall hoch.
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