Trendwende auf Social MediaWir ziehen uns ins Private zurück
Die Zeit der grossen Selbstoffenbarung auf Instagram und Co. ist vorbei. Jetzt folgt der Rückzug ins Private – und der ist in vollem Gange.
Eine der vielen ungeschriebenen Regeln im Internet lautet 90-9-1. Sie besagt, dass auf den meisten Onlineplattformen 90 Prozent der Nutzer sich nie aktiv zu Wort melden, 9 Prozent einige wenige Inhalte beitragen und das letzte eine Prozent für fast alle Aktivitäten verantwortlich ist.
Für diese grosse schweigende Mehrheit hat sich im Lauf der Zeit ein eigener Begriff gebildet: Lurking, so nennen Internet-Scholastiker dieses Verhalten. Es gibt im Slang noch eine Verschärfung, dann hat man es mit dem Leeching zu tun. Wer nichts beiträgt, hat den gleichen Stellenwert wie ein Blutegel.
Die doch recht scharfe Terminologie ist schon bezeichnend für den Zeitgeist der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Unerhört schien es lange zu sein, nichts zu sagen, nichts zu posten, sich nicht zu offenbaren.
«Leute, die dich nur beobachten»
So ist es kein Wunder, dass sich inzwischen Podiumsdiskussionen und akademische Studien der Psychologie der Lurker widmen. Was bewegt sie? Was denken sie? Und nicht zuletzt: Welchen Mehrwert liefern sie?
Derweil beklagen Tiktok-Influencer bereits sogenannte Ghost Watchers. Das seien «Leute, die jeden deiner Schritte beobachten, die alles beobachten, was du tust, aber nichts davon unterstützen», wie eine Nutzerin motzt. «Es sind Leute, die dich nur beobachten, und das ist einfach eklig.»
Nun kann man es befremdlich finden, wie viele Menschen ganz normales Publikumsverhalten wiederum als befremdlich empfinden. Vielleicht sind aber selbst die vermeintlichen Internet-Stars es inzwischen müde, «wahrgenommen» zu werden.
Obwohl alle am selben Ort versammelt waren, wurden sie doch immer weiter auseinandergetrieben.
Da also immer mehr Menschen mit den Folgen des ständigen Teilens konfrontiert sind, wandeln sich die sozialen Medien. Weg vom Sozialen, hin zum Medialen. Inzwischen handelt es sich um nicht mehr als eine Ansammlung von Entertainmentplattformen, auf denen die Nutzer zwar Inhalte konsumieren, aber nur selten, wenn überhaupt, eigene Inhalte schaffen.
Der eigentliche Anwendungsfall ähnelt immer mehr einem Fernsehsender und weniger einem Netzwerk von gleichberechtigten Akteuren. Die erfolgreichsten Apps der vergangenen Jahre priorisierten durchgängig die algorithmisch gesteuerte Entdeckung von neuen Inhalten und vernachlässigten dafür die direkte Verbindung der Nutzer. Obwohl alle am selben Ort versammelt waren, wurden sie doch immer weiter auseinandergetrieben.
Nun kommt als logische Gegenbewegung der Rückzug ins Private – und der ist in vollem Gange. Das grösste Wachstum verzeichnen Plattformen wie Instagram im Bereich der Direct Messages, also der Nachrichten direkt von Nutzer zu Nutzer, oder der geschlossenen Chatgruppen. Neue Apps wie Geneva – laut Selbstbeschreibung «privater als Facebook und lustiger als Slack» – widmen sich ausschliesslich solchen Mikrogemeinschaften und betonen dadurch die Trendwende.
Schritte in ein gesünderes digitales Leben?
Der Lurker, der gerade noch ein Freak war, wird jetzt zur neuen Standard-Persona. War die erste Welle der sozialen Medien also ein kollektiver Irrtum? Nach einem Jahrzehnt, in dem wir unsere intimsten Momente in der Öffentlichkeit preisgegeben haben, werden die Menschen in ihren Gemeinschaften wählerischer und kehren zu einer altmodischen – oder eher natürlicheren? – Art der Interaktion zurück.
Der Austausch wird authentischer, das Publikum kleiner. Es ist schwer zu sagen, wie sich dieser Wandel langfristig auf unser Online-Dasein auswirken wird. Wird es eine neue Super-App geben, in der alle Nischen gebündelt sind? Werden wir bald ein gesünderes digitales Leben führen? Oder werden nur die Echokammern noch hermetischer abgeriegelt?
Fehler gefunden?Jetzt melden.