Überraschender Jugendtrend «Luddites» – Junge, die Nein sagen zum Smartphone
Sie treffen sich in Parks, haben Klapphandys und lesen auf Papier. Wieso manche Teenager und junge Erwachsene bewusst offline leben.
Lukas ist 17 Jahre alt und hat kein Smartphone. Das liegt jedoch nicht daran, dass er sich keines leisten kann oder seine Eltern ihm eines verbieten. Lukas ist freiwillig offline. Man könnte ihn als eine Art Rebell bezeichnen, als jemand, der gegen den Strom schwimmt.
Denn heutzutage auf ein Smartphone – und damit auf Whatsapp, Instagram und andere soziale Medien – zu verzichten, ist ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher ist es, wenn ein junger Mensch es tut. Lukas kommt aus einer Generation, die mit Smartphones gross geworden ist.
Im Rahmen der James-Studie der ZHAW gaben 2022 rund 99 Prozent der befragten Jugendlichen an, ein Smartphone zu besitzen. Im Durchschnitt verbrachten sie laut eigener Einschätzung an einem Wochentag drei Stunden und am Wochenende vier Stunden am Smartphone – das sind 23 Stunden pro Woche.
«Ich sagte immer, dass ich mir ein Handy hole, wenn ich einen Grund dafür habe, und den hatte ich halt einfach nie.»
Wie das aussehen kann, beobachtet Lukas bei seinen Klassenkameraden. «Die ersten meiner Freunde hatten so ab der fünften Klasse ein Handy. In der zweiten Oberstufe war ich dann der Letzte, der keins hatte», sagt er. Er selbst habe sich nie gegen ein Smartphone entschieden, sondern einfach nur nicht dafür. Der Verzicht sei für ihn eine rationale Abwägung gewesen.
«Ich habe immer gesagt, dass ich mir ein Handy hole, wenn ich einen Grund dafür habe, und den hatte ich halt einfach nie: Ich muss nicht mit dem Bus fahren, sondern kann in die Schule laufen. Ausserdem bin ich nicht in einer grossen Stadt unterwegs, und wenn doch, dann meistens mit Freunden, die ein Smartphone haben.»
Teenie-Bewegung aus den USA
Etwas bewusst aus seinem Leben zu verbannen, ist in Mode. Ob es Alkohol, Fast Fashion oder Fleisch ist: Der gewollte Verzicht gilt inzwischen vielen eher als Gewinn statt als Verlust, insbesondere wenn man Konsumgüter aus nachhaltigen und umweltschonenden Gründen aus seinem Alltag streicht. Auch die digitale Welt steht im Fokus dieser Verzichtsbewegung, im Internet findet man zahlreiche Anleitungen zum «Social Media Detox», also wie man sich für kurze Zeit von den sozialen Medien entwöhnen kann.
Ein kompletter Verzicht wie bei Lukas ist dennoch aussergewöhnlich, allein ist er damit aber nicht. «Luddite Club» nennt sich eine kleine Bewegung an Teenagern in den USA, die insbesondere in New York in den vergangenen Jahren entstanden ist. Die «Luddites» benutzen entweder gar kein Handy oder höchstens alte Klapphandys ohne Internetzugang. Dabei entstammen sie wie Lukas der Generation, die mit dem Smartphone und damit auch mit Whatsapp und Tiktok gross geworden ist.
«Jugendliche müssen sich irgendwo im Leben positionieren, und Social Media ist dabei ein sehr wichtiges Werkzeug.»
Der Name «Luddite» bezieht sich auf eine Bewegung englischer Textilarbeiter, die im frühen 19. Jahrhundert gezielt Maschinen zerstörten, um gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen im Zuge der industriellen Revolution anzukämpfen. Die jetzigen «Luddites» vernichten ihre Smartphones zwar nicht, wehren sich aber trotzdem: gegen den Druck, der durch die sozialen Netzwerke entsteht.
«Die Jugendlichen müssen sich irgendwo im Leben positionieren, und Social Media ist dabei ein sehr wichtiges Werkzeug», sagt der Internetsoziologe Stephan G. Humer. Wenn man dabei selbst nicht Trendsetter sein könne oder sich nicht nach Belieben rauslösen könne, würde das zu einer enormen Belastung führen. «Der Druck, den die Jugendlichen spüren, ist also der Identitäts-, Bildungs- oder Entwicklungsdruck», erklärt Humer.
Ausserdem sei es bei Jugendlichen inzwischen nicht mehr vorgesehen, ohne Digitalisierung die eigene Identität zu entwickeln. «Das heisst nicht, dass sie alle bei Social Media sein müssen, aber sie müssen sich zur Digitalisierung irgendwie verhalten», sagt der Internetsoziologe. Das tun auch die «Luddites». Statt in den sozialen Medien abzuhängen, kommen sie wöchentlich an einem festen Treffpunkt zusammen, um gemeinsam zu zeichnen, Bücher zu lesen oder Musik zu machen. Smartphones sind hier tabu.
Genervt von Selbstinszenierung
Auch der 32-jährige Benno besitzt keines, sondern benutzt stattdessen ein Nokia-Tastentelefon. Vor zwölf Jahren machte er gerade ein Erasmus-Semester in Schweden, als unter seinen Kommilitonen das Smartphone und damit auch die neue, schnelle Art, sich zu vernetzen, aufkam. Benno betrachtete das skeptisch. «Ich würde schon sagen, dass ich direkt einen kritischen Blick hatte und mich von Anfang an bewusst gegen das Smartphone entschieden habe», erzählt er. Ausschlaggebend sei für ihn die Beobachtung gewesen, dass das Smartphone stark vom realen Leben ablenke und unglaublich viel Zeit einnehme.
Aber auch die sozialen Medien trugen zu seinem Verzicht bei. 2010 verbreitete sich gleichzeitig mit dem Smartphone auch Facebook in Bennos Umkreis. Er erstellte sich zwar einen Account, um mit seinen Freunden zu chatten und um sich über Veranstaltungen zu informieren. Nach einiger Zeit war er jedoch genervt von der Selbstinszenierung und den Schönheitsidealen, die über die Plattform verbreitet werden. 2016 löschte Benno seinen Account.
Lukas hatte noch nie einen Facebook-Account, er hat auch kein Instagram, kein Tiktok und kein Whatsapp. Von Gleichaltrigen ausgeschlossen fühlt er sich selten. «Das sind dann Sachen im Klassenchat oder so, wenn da ein Insider entsteht oder irgendeine Information geteilt wird. Weil alle da drin sind, vergessen sie manchmal, mir das mitzuteilen. Meistens funktioniert das aber mit der Kommunikation.»
Wenn er sich mit seinen Freunden verabredet, spricht er das meist in der Schule ab. «Ich habe eine Liste mit ein paar Telefonnummern, aber meistens rufe ich halt übers Festnetz oder über Discord an.» Discord, eine Vernetzungsplattform, ursprünglich für Gamer gedacht, hat Lukas auf seinem Computer. Dort schaut er auch Youtube-Videos, hört Spotify und spielt ab und an «Minecraft».
Auf der Strasse fragt er nach dem Weg
Benno kommuniziert mit seinen Freunden über SMS und Anrufe von seinem Tastenhandy. Schwierigkeiten gibt es gelegentlich auch bei der Orientierung. Wenn Benno irgendwo hingeht, macht er sich immer einen Plan. «Ich schaue mir vorher auf einer Karte an, wo ich hinmuss, und schreibe mir dann einen kleinen Notizzettel.» Wenn er sich verläuft, muss er jemand auf der Strasse fragen.
Beide bereuen ihren Verzicht trotz mancher Umstände nicht. «Mit jedem Jahr bin ich glücklicher über meine Entscheidung, ich habe nicht das Gefühl, etwas zu verpassen», sagt Benno. Lukas erzählt, dass er sich immer wieder frage, ob er zurzeit ein Smartphone brauche. Das sei aber nie der Fall gewesen. «Und wenn, dann war es in Momenten, wo ich Langeweile hatte», sagt Lukas. Das Ablenken mit dem Smartphone beobachtet er oft bei Gleichaltrigen. Diese könnten sich bei Langeweile nicht selbst beschäftigen und seien durch das Smartphone auch unaufmerksamer.
Es gibt auch bereits Ideen, um dem Smartphone-Konsum etwas entgegenzusetzen. Benno und ein Studienkollege gründeten 2016 aus Jux ein Anti-Smartphone-Bündnis: die Radikale Anti-Smartphone-Front, kurz RASF. «Wir haben Slogans entwickelt, unsere Freunde mit einbezogen und Flyer verteilt», erinnert er sich. «Ficken statt Facebook» oder «Lieben statt Liken» lauteten zwei ihrer Schlachtrufe. «Für uns war es einfach cool, die Leute dafür zu sensibilisieren, dass die Welt sich da draussen abspielt, nicht vor dem Bildschirm», erzählt Benno.
Grenzen des Lebens ohne Smartphone
Mit 31 Jahren ging er für acht Monate auf Weltreise und legte sich dafür erstmals ein Smartphone zu. Grund dafür waren Erfahrungen bei einer Reise ein paar Jahre vorher, als er ohne Smartphone Sri Lanka besuchte. «Da wusste ich manchmal nicht, wo ich bin. Ich konnte die Sprache nicht, viele Leute sprachen kein Englisch, ich konnte kein Google Translate benutzen. Ich konnte keine Sachen buchen, ich bin in den schlechtesten Hotels gewesen.»
Deswegen entschied er sich bei seiner Weltreise, so ein Gerät mitzunehmen. Wieder zu Hause, legte er das Handy aber in eine Schublade, dauerhaft nutzen möchte er es weiterhin nicht. Auch in seinem Beruf als Unternehmensberater kommt er bislang gut ohne aus.
«In letzter Zeit gab es viele Sachen, wo es praktisch gewesen wäre, ein Smartphone zu haben.»
Bei Lukas sieht das anders aus. «In letzter Zeit gab es viele Sachen, wo es praktisch gewesen wäre, eins zu haben», sagt er. Insbesondere eine bevorstehende Interrail-Reise in den Sommerferien mit einem Freund macht ihm die Grenzen des Lebens ohne Smartphone in einer digitalen Welt deutlich bewusst. «Die ganzen Buchungen sind online, die Tickets, die Hostels und so weiter. Ich denke, dass ich es jetzt auch in Zukunft ab und an mal brauchen werde», sagt er.
Ob er mit dem Smartphone dann auch in den sozialen Medien unterwegs sein will, weiss er noch nicht. Bestellt hat er das Smartphone schon. Nur angekommen ist es noch nicht: Die Post hat es verloren. Lukas muss jetzt erst mal nachforschen – per Telefon.
Fehler gefunden?Jetzt melden.