Velo-Comeback statt AbschiedTom Dumoulin ist noch nicht fertig mit dem Radsport
Der Niederländer war so am Limit, dass er sich sechs Monate aus dem Spitzensport zurückzog. Der Rücktritt stand im Raum. An der Tour de Suisse gibt er nun sein Comeback.
Abrupter kann man den Stecker nicht ziehen. Per Videobotschaft gab Tom Dumoulin Ende Januar bekannt, dass er eine Pause vom Radsport brauche. «Während Wochen, Monaten, vielleicht sogar eines ganzen Jahres ist es mir schwergefallen, mich als Radprofi Tom Dumoulin zurechtzufinden», sagte der 30-Jährige – und verabschiedete sich auf unbestimmte Dauer vom Profizirkus.
Dann war Ruhe. Der Giro-Sieger 2017 schloss sich nicht zu Hause ein, das nicht. Nur vom Profiradsport, der ihn nun bald zehn Jahre umtreibt, entfernte er sich. «Stattdessen traf ich mich mit ganz vielen Freunden zum Wandern», erzählt Dumoulin an der Tour de Suisse.
Ziemlich kurzfristig entschied er sich, an der Schweizer Landesrundfahrt sein Comeback zu geben. Nun rollt er durchs Land, praktisch inkognito. Nicht primär, weil keine Zuschauer zugelassen sind bei Start und Ziel. Sondern weil er für einmal ohne Ambitionen auf ein Spitzenresultat angetreten ist.
Als er sich im Januar temporär vom Team verabschiedete, ging es ihm so schlecht, dass er sich alles vorstellen konnte. Auch das Karrierenende. Sollte er nun den Traum vom Medizinstudium verfolgen, den er einst wegen der Velokarriere verworfen hatte? «Ich stellte stark infrage, warum ich als Radprofi weitermachen sollte. Denn ich hatte nicht nur mit psychischen Problemen zu kämpfen. Ich litt auch unter einem starken Übertraining. Das ist nicht schön als 30-jähriger, eigentlich fitter Mann, wenn du physisch in einem so schlechten Zustand bist», sagt Dumoulin.
Doch sobald er ruhte, begannen sich Körper und Geist zu erholen. «Du siehst die Dinge wieder aus einer anderen Perspektiven. Nach einigen Wochen setzte ich mich wieder aufs Velo. Und spürte, dass ich damit noch nicht fertig bin.»
Dumoulin ist nicht der erste Radsportler, der psychische Probleme öffentlich macht. Der einstige Topsprinter Marcel Kittel erklärte 2019 mitten in der Saison seinen Rücktritt, zwei Tage vor seinem 31. Geburtstag. Der Brite Pete Kennaugh, Bahn-Olympiasieger und Helfer im Team Sky, tat es dem Deutschen im selben Jahr gleich, mit 28.
Beide sahen keinen Weg mehr zu einer Rückkehr in den Spitzensport – im Gegensatz nun zu Dumoulin. «Jeder Fall ist komplett individuell. Ich hüte mich darum auch davor, Ratschläge zu erteilen», sagt der Niederländer.
Die Thematik erhielt kürzlich zusätzliche Publizität, als Tennisspielerin Naomi Osaka psychische Probleme als Grund für ihren Rückzug vom French Open nannte. «Es ist nicht so, dass ich alleine wäre mit dem Problem. In allen Sportarten, nein, in jedem Bereich des Lebens gibt es Leute, die damit zu kämpfen haben. Es gibt aber einfach nur wenige Arbeitswelten, wo man von der ganzen Welt beobachtet wird. Das macht es noch schwieriger», so Dumoulin. Während der Tour de France 2020 wurde über sein Team Jumbo-Visma ein Dokumentarfilm gedreht. Dumoulin, der im Rennen unter starken Sitzbeschwerden litt, ist darin in sehr intimen Momenten zu sehen.
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Für Dumoulin fiel der definitive Entscheid, ins Peloton zurückkehren zu wollen, am Amstel Gold Race, seinem Heimrennen – er wuchs 200 Meter von der einstigen Ziellinie in Maastricht entfernt auf. Erstmals nach seinem Abgang traf er wieder die Teamkollegen, verfolgte das Rennen vom Strassenrand. Dumoulin war in der TV-Übertragung zu sehen, alleine an der Strecke stehend – Fans waren beim Rundkurs nicht zugelassen. «Jener Besuch hat etwas ausgelöst. Ich dachte: ‹Es wäre schön, mindestens noch ein Gold Race zu fahren›», sagt Dumoulin.
Nach der Velopause trainierte er während zweier Wochen, dann absolvierte er für sich einen kleinen Test – und war sehr überrascht, was er schon wieder zu leisten im Stande war. «Das Talent ist nicht weg, ich muss jetzt nur trainieren für Tokio.» Die Olympischen Spiele hat er als nächstes, sehr baldiges Ziel auserkoren, will dort eine Medaille gewinnen.
Auch darum kam sein Comeback an der Tour de Suisse recht kurzfristig. Sie ist – abgesehen von der Tour de France – das letzte Etappenrennen vor Tokio. Er bestreitet sie, um mit dem Rennblock seine Fitness zu verbessern, ganz im Bewusstsein, dass er dabei für deutlich schlechtere Resultate als gewöhnlich deutlich mehr leiden muss. «Er testet sich täglich – aber nicht für ein Resultat», sagt Addy Engels, sein sportlicher Leiter an der Tour de Suisse.
Bereits beim Auftaktzeitfahren beeindruckte Dumoulin Engels, er wurde 16. und erfüllte seine eigenen Erwartungen vollends («Ich muss noch nicht mit den Besten mithalten, sollte aber auch nicht bei den Schlechtesten sein.»). «Er schaut wieder aus wie der Tom von früher, bevor er mit sich zu ringen begann», sagt Engels und spricht fast schon bewundernd von diesem «sehr talentierten Velofahrer, der immer noch eine enorme Power hat». Engels hält es denn auch sehr wohl für realistisch, dass sich Dumoulin in eine Form trainiert, die ihn in Japan im Zeitfahren um Olympiamedaillen kämpfen lässt.
Was danach kommt, ist offen. Dumoulin hat sich dieses erste Ziel gesetzt, erst danach will er weiterschauen. Etwa, ob er wieder den Stress auf sich nimmt, den das Ziel Grand-Tour-Sieg mit sich bringt.
Sein Team Jumbo-Visma zeigte sich sehr verständig für Dumoulins psychische Probleme. Für den Sportlichen Leiter Engels eine Selbstverständlichkeit: «Wenn sich ein Fahrer einen Knochen bricht, gibt man ihm die Zeit, um wieder fit zu werden. Warum sollte das in diesem Fall anders sein?» Engels ist hingegen nicht der Meinung, dass die Fahrer heute durch die digitale Überwachung und Vermessung ihres Lebens mehr Stress ausgesetzt wären als frühere Generationen. «Am Schluss ist es immer der Fahrer selber, der performen will, der entscheidet, wie weit er gehen will. Der menschliche Aspekt im Spitzensport war früher wichtig und ist es heute genauso», sagt Engels. Dumoulin sagt dazu: «Ich tat einfach alles, ohne wirklich zu merken, was ich tat. Die Pause war gut, um darüber zu nachzudenken: Was mag ich nicht am Profisport, was will ich nicht mehr machen?»
Zuletzt absolvierte er auch ein erstes Höhentrainingslager. Nicht wie üblich mit dem Team, sondern in Begleitung der Eltern und seiner Frau. «Wir hatten eine gute Zeit. Ich dachte: Wenn das der Profiradsport ist – natürlich will ich das weitermachen!»
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