Interview mit Mobilitätsexperte«Wir muten den Kindern zu viel zu»
Eltern in Oberrieden wehren sich nach einem tödlichen Unfall gegen den langen Schulweg für eine Vierjährige. Pascal Regli vom Fachverband Fussverkehr Schweiz sagt, warum kleine Kinder nicht auf verkehrsreichen Strecken unterwegs sein sollten.

Nach dem Tod eines Mädchens sorgen sich Eltern in Oberrieden um die Sicherheit ihrer Kinder auf dem Schulweg und fordern eine dauerhafte Begleitung. Dieser Text zum Thema ist zum ersten Mal im Dezember 2022 erschienen, Anlass war der Tod eines Kindergärtlers auf dem Escher-Wyss-Platz mitten in der Stadt Zürich. Wir publizieren das Gespräch mit Pascal Regli vom Fachverband Fussverkehr Schweiz in leicht angepasster Form hier erneut.
Herr Regli, jedes Jahr verunglücken rund 400 Kinder auf dem Weg zum Kindergarten und zur Schule, ein bis zwei Kinder sterben, etwa 60 werden schwer verletzt. Vor allem Fünf- bis Neunjährige sind betroffen. Weshalb sind kleine Kinder besonders gefährdet?
Vier- bis fünfjährige Kinder sind oft nicht in der Lage, zuverlässig ein stehendes von einem fahrenden Auto zu unterscheiden. Und sie können sich noch nicht in andere Verkehrsteilnehmer hineinversetzen. Sie schliessen von sich auf andere: Da sie selbst auf der Stelle stehen bleiben können, gehen sie davon aus, dass auch das Auto sofort anhalten kann. Und wenn sie das Auto mit seinen «Scheinwerferaugen» sehen, nehmen sie an, dass das Auto sie ebenfalls sieht.

Kinder haben laut Verfassung einen Anspruch auf einen «zumutbaren Schulweg». Was versteht man darunter?
Wenn ein Kind den Schulweg allein zurücklegen kann, gilt er als zumutbar. Viele Eltern und auch Vertreterinnen und Vertreter von Schulbehörden wissen nicht, dass Kindergarten- und Schulkinder einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen zumutbaren Schulweg haben. Ist der Weg zur Schule zu weit oder zu gefährlich und kann die Schule deswegen nicht sicher oder zeitgerecht erreicht werden, wird das Recht auf Bildung verletzt. Ist ein Schulweg unzumutbar, sind die Schulbehörden der Gemeinde angehalten, Massnahmen zu ergreifen.
Wann ist ein Schulweg denn nicht zumutbar?
Ob der Weg zumutbar ist oder nicht, wird immer im Einzelfall beurteilt. Vereinfacht gesagt: Bei Vier- bis Fünfjährigen muss ein Schulweg, der länger als einen Kilometer ist, hinterfragt werden. Ist der Weg länger als 1,5 Kilometer, kann davon ausgegangen werden, dass er unzumutbar ist.
Ist das Queren von mehrspurigen Autostrassen, Tramlinien, Bahngleisen und Velowegen, für Kindergärtler zumutbar?
Generell kann gesagt werden, dass Fünfjährige bei weitem nicht als «verkehrssicher» gelten können. Sie lassen sich leicht ablenken, können Distanzen und Geschwindigkeit nicht abschätzen, und sie stolpern häufiger, weil ihr Gleichgewichtssinn nicht ausgeprägt ist. Kindergartenkindern kann deswegen die Überquerung einer relativ stark befahrenen Strasse kaum je zugemutet werden, auch dann nicht, wenn Fussgängerstreifen und Mittelinseln zur Verfügung stehen. Ich bin der Meinung, dass wir kleinen Kindern in verkehrsreichen Situationen oft zu viel zumuten.

In der Schweiz werden die Eltern aufgefordert, ihre Kinder möglichst selbstständig in den Kindergarten und die Schule zu schicken. Warum ist das so wichtig?
Wenn unser Verband bei Schulweg-Analysen die Kinder befragt, fällt auf, dass sie ihren Schulweg meistens als sehr positiv wahrnehmen. Der Schulweg ist das Refugium, wo sie ohne Aufsicht von Erwachsenen mit ihren Gspäändli unterwegs sind und dabei viel erleben. Psychologinnen und Erziehungswissenschaftler sagen uns, dass gerade der selbstständig zurückgelegte Schulweg für die Entwicklung der Kinder wichtig ist.
Worauf müssen Eltern achten, wenn sie mit dem Kind das Verhalten im Strassenverkehr üben?
Sie sollen möglichst früh mit dem Kind zu Fuss unterwegs sein, spazieren oder einkaufen gehen und es nebenbei auf die Gefahren aufmerksam machen. Und dabei viel Geduld haben. Auch ganz wichtig: Eltern sind Vorbilder, sie müssen ebenfalls den Fussgängerstreifen benutzen und dürfen nie bei Rot über die Strasse gehen.
Worauf muss der Automobilist achten, wenn er ein Kind am Fussgängerstreifen warten sieht?
Auf keinen Fall soll er nur verlangsamen und Signale geben, weder blinken noch Handzeichen machen. Er muss etwa drei Meter vor dem Fussgängerstreifen anhalten, «Rad steht, Kind geht», diese Botschaft gilt auch für den Autofahrer.
Sie leiteten in verschiedenen Gemeinden Projekte zum Thema «Sichere Schulwege». Wo sind Kinder am meisten gefährdet?
In der Stadt sind gefährliche Schulwege erstaunlicherweise eher seltener als auf dem Land. Dies vor allem, weil in der Stadt die Schulhaus- und vor allem die Kindergarten-Dichte höher ist und Kinder somit seltener stark befahrene Strassen queren müssen. Kommt dazu, dass in Agglomerationsgemeinden und in den Dörfern eine Mobilitätskultur herrscht, die viel stärker auf dem Auto beruht.
Immer mehr Eltern chauffieren ihren Nachwuchs zur Schule – auch nicht die gewünschte Lösung.
Bei schwierigen Schulwegen muss man Verständnis dafür haben. Aber eine Lösung ist es sicher nicht. Wir versuchen den Eltern zu vermitteln, dass sie damit selber zum Problem werden. Denn Elterntaxis sorgen für noch mehr Verkehr und gefährliche Manöver vor den Schulen. Das macht Schulwege für alle Kinder weniger sicher.
Quartierbewohner setzen sich vielerorts seit Jahren erfolglos für eine Verbesserung der Verkehrssituation ein. Was für Lösungen sind denkbar?
Bei Schulwegen, die für ein Kind aus Sicherheitsgründen unzumutbar sind, kann eine Schulwegbegleitung oder ein Schultransport die notwendige Sicherheit bringen. Verkehrslotsen können hilfreich sein. Im Dichtestress des Alltagsverkehrs ist jedoch davon auszugehen, dass nur gut geschultes Personal in der Lage ist, als Lotsen zu funktionieren. Früher wurden häufig Oberstufenschüler eingesetzt, davon ist man abgekommen, da sie teilweise überfordert waren und von Automobilisten nicht genügend respektiert wurden.
Viele besorgte Eltern begleiten ihre Kinder zur Schule. Was empfehlen Sie?
Der sogenannte Pedibus, der Schulbus auf Füssen, könnte eine Lösung sein, in der Romandie hat er sich längst bewährt. Mindestens eine Mutter oder ein Vater begleitet die Kinder mehrerer Familien auf einer festgelegten Route mit fixen Haltestellen. Der Pedibus setzt aber für alle Beteiligten viel Koordinationsaufwand, persönliches Engagement und strenge Disziplin voraus.
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