Analyse zum Streit um die Online-PlattformTiktok wird zu Joe Bidens Zwickmühle
Der US-Präsident befürchtet, China könne mit dem sozialen Netzwerk die amerikanische Bevölkerung beeinflussen. Er fürchtet aber auch den Unmut junger Wähler, die den Dienst nutzen. Wie er sich aus der Affäre zu ziehen versucht.
Es entbehrt nicht feiner Ironie, dass der US-Präsident Tiktok für sich entdeckte, als sich bereits Amerikas Ultimatum für den Anbieter der App abzeichnete. Joe Bidens erstes Video im Februar befasste sich mit dem Super Bowl, dem grossen Football-Finale. «Lol hey guys», hiess die Premiere, inzwischen hat er 300’000 Follower. Jetzt aber unterschrieb Biden dieses Gesetz, das zuvor nach langem Gezerre im Kongress beschlossen worden war.
So muss sich Tiktok entweder ein Mutterhaus jenseits von China suchen, da Besitzer Bytedance den USA als verlängerter Arm der KP gilt. Oder Tiktok soll in den Vereinigten Staaten verboten werden. Trotzdem machen Biden und andere Politiker vorläufig wie gehabt Wahlkampf mit dieser Plattform, die von 170 Millionen Landsleuten beachtet wird. Als sei nichts gewesen. Wie passt das zusammen?
Der Vorstoss passt nicht zum Recht auf Meinungsfreiheit
Es passt gar nicht zusammen, deshalb haben viele Demokraten und Republikaner dem Vorstoss eher widerwillig zugestimmt. Biden soll auch nicht begeistert sein. Die Zweifel sind berechtigt: Einerseits ist da die offenbar reale Gefahr, dass China Daten abgreifen und mit Algorithmen Einfluss auf die amerikanische Wählerschaft nehmen könnte. Andererseits würde der Bann sowieso erst nach der Schicksalswahl im November greifen, weil Tiktok bis zu einem Jahr Zeit hat, die Eigentumsverhältnisse zu ändern.
Vor allem aber kollidiert der Vorstoss mit der Meinungsfreiheit. Das First Amendment ist in den USA heilig und wird von Tiktok aus guten Gründen herangezogen, um gegen das Manöver vor Gericht zu ziehen. An diesem Ersten Verfassungszusatz waren bereits frühere Versuche gescheitert, Chinas Netzwerk aus Amerika zu vertreiben, 2020 auch jener von Donald Trump. Wieso sollte es diesmal gelingen?
Noch dazu ist Tiktok inzwischen deutlich populärer als damals, ausser Wahlkämpfern hängen auch diverse grössere und kleinere Unternehmer daran. Ausserdem begleitet die amerikanische Offensive der Verdacht, dass ein Rauswurf von Tiktok dessen amerikanischen Rivalen nützen würde, vorneweg Facebook. Wäre es etwa denkbar, dass zum Beispiel Elon Musk dazu aufgefordert würde, X abzugeben, weil sein zunehmend rechtspopulistischer Kurznachrichtendienst Wählerinnen und Wähler manipulieren könnte?
Und was ist mit Elon Musk und X?
Wohl kaum, dabei hatten schon im Jahr 2016 Tweets Trumps Weg ins Weisse Haus begleitet. Ehe ihn Twitter in der Zeit vor Musk sperrte, folgten ihm dort fast 90 Millionen Menschen. Chinas Regime hat zwar im eigenen Land kein Interesse an Meinungsfreiheit, will aber derweil einen Machtwechsel bei einem seiner erfolgreichsten Instrumente im Ausland unbedingt verhindern. Der Streit um Tiktok ist Teil der Spannungen zwischen Washington und Peking, in deren Zuge auch schon ein chinesischer Spionageballon vor der US-Küste abgeschossen wurde.
Biden ist in der Zwickmühle. Er will nicht den Eindruck erwecken, dass er China auf diese Weise ungestört Amerikas Bevölkerung unterwandern lässt. Gleichzeitig kommt ihm der Fall innenpolitisch ungelegen, weil er gerade das jüngere Publikum braucht. Viele Freunde von Tiktok wählen zum ersten Mal.
Am Ende könnten Richter entscheiden, ein Erfolg würde Tiktok noch stärker machen. Vielleicht ist es dem US-Präsidenten ganz recht, dass sich nun die Justiz mit der Sache befassen muss. Vielleicht wäre Joe Biden über eine Niederlage vor Gericht gar nicht nur traurig – falls er denn mithilfe von Tiktok vorher die Wahl gewinnt.
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