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Telemark-Dominatorin Martina Wyss
Nach sieben Operationen und mit verschraubtem Rücken startet sie in ein neues Abenteuer

Martina Wyss am 19.11.2024 in Wilderswil. Foto: Raphael Moser / Tamedia AG
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In Kürze:
  • Martina Wyss erlitt einen Sturz, erneut kugelte die Schulter aus.
  • Sie startet verspätet in die Saison und wechselt zum Skicross.
  • Mit 34 Jahren könnte sie 2030 ihr Olympia-Debüt erleben.

Martina Wyss, 29 Jahre alt und Profiskifahrerin, sitzt an der Bar in einem Fitnesscenter in Wilderswil bei Interlaken. Es ist Mitte November, draussen landen Helikopter auf der Rega-Basis, drinnen erzählt Wyss bei einem Cappuccino aus dem Vollautomaten, dass bei einem Sturz zwei Wochen zuvor ihre Schulter ausgekugelt ist. Zum achten Mal schon. Inzwischen weiss sie, wie sie sich selbst helfen kann: Auf dem Barhocker hebt sie das rechte Knie an, umschliesst es mit den verschränkten Händen und zieht an den Armen. So springt der Oberarmkopf wieder in die Gelenkpfanne.

Wegen dieser Verletzung wird Wyss möglicherweise verspätet in die Saison starten. Speziell wird es ohnehin: Sie fuhr jahrelang im Telemark-Weltcup. Jetzt, in der zweiten Hälfte ihrer Karriere, will sie sich im Skicross hocharbeiten; in dieser Disziplin, in der vier Fahrerinnen gleichzeitig starten und sich Kurve um Kurve und Körper an Körper duellieren. Wyss sagt: «Neues fällt mir leicht. Mein Körper passt sich schnell an. Und ohnehin mache ich nichts gerne zu lange.»

Sowohl Telemark als auch Skicross gelten als Zweitkarrieren. Alle, die in diesen Nischendisziplinen landen, haben mit Ski alpin angefangen. Sacha Giger ist bei Swiss-Ski Direktor für Freestyle, Snowboard und Telemark. Er sagt: «Wechsel zwischen Disziplinen kommen zwar vor. Dass jemand wie Martina von einer Zweit- in eine Drittkarriere wechselt, ist ungewöhnlich. Aber diese wilden Hunde mit alpinem Background, die passen ganz gut ins Skicross.»

Bereits im Dezember 2023 hat Wyss den Wechsel eingeleitet. Während sie im Telemark alle Rennen gewann, bei denen sie antrat, startete sie auch bei mehreren Skicross-Rennen. In Veysonnaz sogar im Weltcup. Acht Zehntelsekunden fehlten ihr dort für den Viertelfinal. Später fand sie heraus, dass sie mit einer gebrochenen Ferse gefahren war.

Hand gebrochen, Rippen gebrochen, Kreuzband gerissen

Wyss wächst als Tochter einer Skilehrerin und eines Skilehrers in Lauterbrunnen auf. Sie will alpine Skirennfahrerin werden und besucht in Engelberg die Sportmittelschule, zusammen mit Wendy Holdener, Corinne Suter oder Marco Odermatt.

Der Körper verweigert Wyss die Profiwünsche. Siebenmal muss sie operiert werden: nachdem das Kreuzband gerissen und die Schulter ausgerenkt ist, die Hand oder die Rippen gebrochen sind. Und als sie mit 20 Jahren einen Bandscheibenvorfall erleidet, verschrauben die Ärzte ihre Lendenwirbel L4 und L5. Seither ist ihre Beweglichkeit leicht eingeschränkt.

Kurz danach beendet sie die Karriere, die nie begonnen hat. Statt Rennen zu fahren, lässt sie sich zur Skilehrerin ausbilden. Dafür braucht sie ein Zweitgerät. Sie wählt: Telemark.

Nicht einmal der grösste Sportartikel­händler verkauft Telemark-Bindungen

Telemark ist die Urform des Skifahrens. Der Schuh, weicher als ein normaler Skischuh, ist wie bei Tourenski an der Spitze am Ski fixiert, die Ferse bleibt frei. Die Athletin kann in der Kurve die Ferse des Innenskis anheben und den Ski so hinter den Aussenski zurückziehen – der klassische Telemark-Schwung.

Längst fahren kaum mehr Freizeitsportler auf Telemark-Ski. Wer eine Ausrüstung braucht, findet sie nur in wenigen Sportgeschäften. Ochsner Sport etwa, der grösste Sportartikelverkäufer der Schweiz, schreibt auf Anfrage, dass er Telemark-Bindungen nicht einmal im Angebot führe.

Der Internationale Skiverband FIS veranstaltet Telemark-Rennen in den Disziplinen Classic, Sprint und Parallelsprint, früher auch im Riesenslalom. Die Athletinnen kurven und fliegen, es gibt 360-Grad-Steilwandwenden und in jeder Disziplin Streckenabschnitte, in denen es per Langlauftechnik den Berg hoch geht. Nie waren das Martina Wyss’ Lieblingsstellen.

Fotoshooting TM Saas-Fee. Fotograf: Bastien Dayer
Martina Wyss skatet vom Steilwandkreisel zurück Richtung Ziel.

In der Skilehrerausbildung bringt sie den Telemark-Kurs so schnell wie möglich hinter sich. Dann reist sie an die Schweizer Meisterschaft der Skilehrer, die sie mehr als grosse Party denn als Rennveranstaltung beschreibt. Weil der Telemark-Kurs gerade frisch ist, nimmt sie mit den Telemark-Ski teil. Und holt Bronze.

Danach verbringt sie Zeit in Neuseeland, wo sie unter anderem als Nachwuchstrainerin arbeitet. Dort, in der Kleinstadt Wanaka auf der Südinsel, erreicht sie der Anruf eines Swiss-Ski-Trainers. «Komm mal zu einem Telemark-Rennen», sagt er. «Sicher nicht, ich habe mit dem Leistungssport abgeschlossen», antwortet sie. Ungezählte Anrufe später lenkt sie ein: «Also gut, dann komme ich halt mal mit.»

Nach der Rückenoperation hatte der Arzt gesagt, dass sie nie wieder Ski fahren werde. Sie dachte: «Ein Arzt, der selbst nicht Ski fährt, sagt mir ganz sicher nicht, dass ich nie mehr Ski fahren werde.» Sie gewinnt 24 von 72 Telemark-Rennen; 2-mal holt sie den Gesamtweltcup, 4-mal die kleine Kristallkugel für eine Disziplinenwertung; 2023 wird sie Weltmeisterin. Dann fragt sie sich: «Und was jetzt?»

Telemark, die Sportart, die ihr eine Karriere gegeben hat, kann ihr nichts mehr geben.

Schwingerkönig lässt sich die Kristallkugel als Glas erklären

In Wilderswil steigt Wyss vom Barhocker und geht durch das Fitnesscenter. Bei Matthias Glarner, dem Schwingerkönig von 2016, der auch hier trainiert, hält sie kurz an. Sie zeigt ihm die Kristallkugel, die sie zum Medientermin mitgenommen hat, und sagt: «Daraus haben wir schon alles Mögliche getrunken. Gin ist jeweils hoch im Kurs.» Die Kristallkugeln der FIS sind hohl und unten offen. Umgedreht bieten sie sich als übergrosse Festkelche an.

Die meisten ihrer Kristallkugeln sind bei einem Familienmitglied. Aber diese Kugel, die Wyss Glarner zeigt, ist ihre wichtigste: Sie steht für den Gesamtweltcupsieg 2023, den sie knapp vor Amélie Wenger-Reymond errang.

Die Walliserin holte den Gesamtweltcup 11-mal, 17-mal wurde sie Weltmeisterin. Eine wie sie hat es nie gegeben. 2023 ist sie zurückgetreten. Damit ist Wyss die liebste Konkurrentin abhandengekommen. Zudem hat sich Wyss mit den Trainern überworfen. Es gab Momente, in denen sie sich von ihnen nicht mehr wertgeschätzt fühlte.

Wer oder was also sollte sie im Telemark halten, in dieser Nischendisziplin, von der sie zudem finanziell kaum leben konnte? Das Preisgeld für einen Weltcupsieg beträgt um die 1000 Franken, darüber hinaus zahlt der Sponsor von Swiss-Ski eine Prämie, die tiefer ist. In ihrer besten Saison, als Wyss alle Disziplinenwertungen und den Gesamtweltcup gewann, siegte sie zwölfmal. Nicht einmal eine solche Dominanz sichert einer Athletin den Lebensunterhalt. Wyss hat nebenher immer als Sportmasseurin gearbeitet.

Als Skicrosserin kann sie, sofern die Resultate stimmen, ihre Saison einfacher finanzieren als im Telemark, weil die Disziplin olympisch ist und Wyss so Zugang zu den Geldern der Sporthilfe hat. Das Problem ist allerdings, dass der Weg zu diesen Geldern für eine Athletin ihres Alters erschwert ist.

Olympia 2026? Oder dann 2030?

Irgendwann, wenn es ihre Schulter zulässt, startet für sie die Skicross-Saison. Sie gehört zum nationalen Sichtungskader und wird möglicherweise auch im Weltcup zum Einsatz kommen, bei einem Heimrennen, für das Swiss-Ski über mehr Quotenplätze verfügt. Vor allem aber wird Wyss im Europacup fahren. Dort will sie sich einen Platz für die kommende Weltcupsaison sichern.

Und ein klein wenig sind auch die Olympischen Spiele in ihrem Hinterkopf. Sacha Giger vom Schweizer Skiverband sagt: «Martina hat als Skicrosserin die realistische Chance, wenn nicht 2026, dann 2030 die Qualifikation für die Olympischen Spiele zu schaffen.»

An den Spielen 2030, ausgetragen in den französischen Alpen, wird Wyss 34 Jahre alt sein. Ein Olympia-Debüt in diesem Alter würde zu ihrem Leben passen.