Abstimmung zur MassentierhaltungWie wirkt sich die Herdengrösse auf das Tierwohl aus?
Bei einer Annahme der Initiative dürfen nur noch 2000 Hühner in einem Stall sein. Bei Schweinen und bei Kälbern bleibt die Anzahl gleich. Was Experten dazu sagen.
Der technische Fortschritt hat die Nutztierhaltung aus wirtschaftlicher Sicht effizienter gemacht. So wächst ein Küken von 40 Gramm in fünf Wochen zu einem 2 Kilo schweren Mastpoulet heran. Ein Kalb von 45 Kilo wird innerhalb von sieben Monaten auf das Sechsfache aufgepäppelt. Und ein Ferkel von 1,5 Kilo bringt bereits nach einem halben Jahr fast das Siebzigfache auf die Waage. Durch das Turbo-Wachstum produzieren Huhn, Schwein und Rind in kurzer Zeit sehr viel Muskelmasse.
Bei der industriellen Nutztierhaltung stehen vor allem die Kosten im Vordergrund. Aufwand und Ertrag müssen stimmen. So leben auch in der Schweiz viele Nutztiere zu Hunderten oder Tausenden in Ställen. Wie gross die Bestände in den einzelnen Bezirken der Kantone sind, zeigen Auswertungen des Bundesamts für Statistik (BFS) in einem Schweizer Atlas (Hühner, Schweine, Rinder).
Seit den 1990er-Jahren fördert der Bund «besonders tierfreundliche Stallhaltungssysteme», kurz BTS, und den Aufenthalt ausserhalb des Stalles mit dem Programm «Regelmässiger Auslauf ins Freie», auch Raus genannt. Die Massentierhaltungsinitiative fordert nun, dass alle Nutztiere unter Raus-Bedingungen gehalten werden. Dabei soll die Bio-Suisse-Richtlinie von 2018 als Mindeststandard gelten, bei der zum Beispiel grössere Stallflächen und dem natürlichen Verhalten der Tiere angepasste Ruhe-, Bewegungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten ein Muss sind. Die Anbindehaltung von Kühen mit regelmässigem Auslauf wäre aber weiterhin möglich.
«Ein Trugschluss ist jedoch, dass sich bei einer Annahme im grossen Stil überall auch plötzlich die Herdengrösse ändern würde», sagt Hanno Würbel, Professor für Tierschutz an der Universität Bern. Denn dies wäre nur beim Geflügel der Fall. Rind und Schwein seien davon nicht betroffen. Maximal dürften somit in Zukunft nur noch 2000 Hühner in einer Halle sein.
«Ob sich in einem professionell bewirtschafteten Stall insgesamt nun 2000 oder maximal 18’000 Legehennen befinden, macht für das Tierwohl letztlich keinen Unterschied», sagt Würbel. Zumindest gebe es keine wissenschaftliche Grundlage, die das Gegenteil beweisen würde. Denn die Anzahl der Tiere sei sowieso weit weg von natürlichen Grössen mit vielleicht 30 Individuen, die auch noch aus einer alters- und geschlechtsgemischten Gruppe bestehen.
Viel wichtiger sei es, wie viel Platz ein Individuum im Stall habe und ob es – wie zum Beispiel bei den Legehennen – vergleichsweise tiergerecht gehalten werde, so Würbel weiter. Dies bedeutet, dass sie die Möglichkeit haben, mit den Krallen in der Einstreu zu scharren, auf Sitzstangen in verschiedenen Höhen zu schlafen, ihr Futter zu suchen, das Gefieder im Sand zu reinigen, oder dass sie ein abgedunkeltes Nest zum Eierlegen haben und an die frische Luft können.
«Die Vorgaben der Tierschutzverordnung in der Schweiz sind zwar im Vergleich zum Ausland gut», sagt Würbel. Doch teilweise seien die Mindeststandards auch nur die Grenze zur Tierquälerei. Dies liege nicht nur an den Haltungsbedingungen des jeweiligen Betriebs, sondern vor allem auch an den überzüchteten, ausschliesslich auf Leistung selektionierten Rassen. So haben zum Beispiel viele Legehennen Brustbeinbrüche, die Schmerzen verursachen und die Beweglichkeit einschränken.
Knochenbrüche und Zehenpicken
Weil Biobetriebe die gleichen Zuchtlinien für Legehennen haben, ist die Situation in Bezug auf die Knochenfrakturen gleich. Auffällig ist zudem, dass es inzwischen häufiger zu Zehen- anstatt Federpicken kommt. Wenn erst einmal Blut fliesse, erklärt Würbel, würden auch die anderen Tiere im Stall reagieren. Die Abgänge aufgrund von Zehenpicken liegen oft im Bereich von 10 Prozent, in manchen Fällen aber auch bei bis zu 50 Prozent. Aus diesem Grund müsse bei der Zucht generell noch viel stärker auf die Gesundheit und das Verhalten der Tiere geachtet werden.
Bei einer Annahme der Initiative dürften die bisher für konventionelle Haltungen verwendeten Zuchtlinien für Mastpoulets nicht mehr zum Einsatz kommen. Für Biobetriebe sind solche Zuchtlinien verboten. Denn diese wachsen so schnell, dass es negative Auswirkungen auf das Skelett hat. Zudem haben die Turbo-Masthühner auf einmal so viel Gewicht durch die enorme Muskelmasse, dass sie sich am Ende der Mastzeit kaum mehr bewegen und bis zum Schlachttermin vor allem herumliegen.
«Fast alle Masthühner in der Schweiz werden zwar nach den besonders tierfreundlichen Richtlinien gehalten, können den Aussenklimabereich jedoch aufgrund von Beinschwächen nie betreten», sagt Würbel. Im Gegensatz zu Legehennen, von denen insgesamt knapp 85 Prozent Auslauf ins Freie haben, sind es bei den Schweizer Beständen der Masthühner nur rund 8 Prozent. Vom Raus-Programm des Bundes profitiert auch nur die Hälfte der Mastschweine, wie eine Statistik des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) zeigt.
Die Schweiz gilt als Land mit dem strengsten Tierschutz. Dennoch kommt es auch hierzulande immer wieder vereinzelt zu tierquälerischer Haltung, wie Bilder und Videoaufnahmen erst vor kurzem zeigten. «Dort hapert es an der Umsetzung der Vorgaben und an der Überwachung, nicht aber am Tierschutzgesetz», sagt Roger Stephan, Direktor des Instituts für Lebensmittelsicherheit und -hygiene an der Vetsuisse-Fakultät Zürich. Wenn dies vorkomme, müsse es sofort den zuständigen Behörden gemeldet und geahndet werden.
«Es kommt nicht darauf an, wie viele Tiere in einer Gruppe in einem grossen Stall leben, solange weiterhin auf die Bedürfnisse des Individuums geachtet wird», sagt auch Beat Wechsler vom BLV, Leiter des Zentrums für tiergerechte Haltung am Standort der Agroscope in Tänikon. Zum Beispiel darf bei Schweinen nach den Vorgaben der Tierschutzgesetzgebung nicht nur eine Beisskette in ihrer Bucht hängen. Es müssen Beschäftigungsmaterialien vorhanden sein, die kaubar, benagbar und fressbar sind. Schliesslich suchen Schweine in der Natur im Boden mit ihrer Schnauze sehr ausdauernd nach Wurzeln, Insekten und Würmern.
In dem besonders tierfreundlichen Stallhaltungsprogramm muss auf den Liegeflächen genug Stroh sein, sodass eine nackte Betonfläche nicht zulässig ist. «Schweine sind äusserst intelligente und soziale Tiere, die sich schnell in einer Gruppe wohlfühlen und dort alle kennen. Wenn die Bedingungen jedoch nicht stimmen, bearbeiten sie ihre Umgebung intensiv und können dabei auch anderen Schweinen in den Schwanz beissen», sagt Wechsler. In Einzelfällen seien dies schwerwiegende Verletzungen.
Auch für die Gesundheit der Kälber lässt sich einiges tun. Das Problem ist, dass männliche Kälber auf reinen Milchbetrieben nicht viel wert sind und als überzählig gelten. Deshalb werden sie oft bereits im Alter von drei bis vier Wochen von einem Transporter abgeholt, der die Jungtiere auf verschiedenen Höfen einsammelt und an einen Ort zum Mästen fährt. Dort sind sie mit bis zu 50 anderen Tieren in einem Stall, sodass oft Krankheitserreger übertragen werden können. «Bei der Corona-Pandemie haben wir ja selbst erlebt, wie schnell dies geht, wenn viele Leute zusammenkommen», sagt Wechsler.
Wie eine Studie der Universität Bern 2019 zeigte, sind präventive Massnahmen beim Transport und bei der Haltung von Kälbern äusserst erfolgreich. So lässt sich unter anderem durch eine gezielte Outdoor-Quarantäne in einem kleinen Einzel-Iglu, bei der das Jungtier draussen ist und weiterhin Blickkontakt zu anderen Kälber hat, das Risiko einer Erkrankung und deshalb der Einsatz von Antibiotika stark reduzieren. Später kommen die Tiere dann in kleinen Gruppen zusammen.
Nutztiere sind häufig auf Höchstleistung getrimmt. «Grundsätzlich wäre es besser, bei den Zuchtzielen vermehrt auch die Gesundheit zu berücksichtigen», sagt Roger Stephan. Eine Hochleistungsmilchkuh, die im Jahr mehr als 10’000 Liter Milch produziere, habe eher Entgleisungen des Stoffwechsels und erkranke durch die Dauerbelastung auch eher an Euterentzündungen. Vergleichbar mit einem Renn-Ferrari, der die ganze Zeit mit Vollgas fahre und dessen Motor irgendwann Abnutzungserscheinungen bekomme.
Die von der Massentierhaltungsinitiative vorgegebene Bio-Suisse Richtlinie bewirkt vor allem, dass die einzelnen Tiere etwas mehr Platz und auch mehr artgerechte Beschäftigungsmöglichkeiten bekommen. «Am Schluss landen sie aber alle in den gleichen Schlachtbetrieben», sagt Stephan. Ob Bio oder nicht, es gebe somit auch nach der Abstimmung keine Unterschiede bei der Schlachtung der Tiere.
Auch am Geschmack des Fleischs könne man im Nachhinein nicht mehr erkennen, mit wie vielen Tieren es früher im Stall gestanden habe, fügt er hinzu. Denn der Fleischgeschmack sei wesentlich von der Rasse, der Fütterung der Tiere, dem Fettgehalt der Muskulatur und der Fleischreifung abhängig.
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