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Sicherheitslage in Afghanistan
Taliban erobern Metropole – Biden verteidigt Abzug und warnt

Der US-Präsident Biden warnt die Taliban davor, die Evakuierungsmission zu behindern. 
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Die Taliban setzen am Samstag ihren Vormarsch in Afghanistan fort: Nur etwa 35 Kilometer vor Kabul habe es am Morgen Gefechte um Maidan Schar gegeben, der Hauptstadt der Provinz Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der Deutschen Presse-Agentur. Die Taliban beherrschten bereits einen Grossteil der Provinz.

Nun hat Afghanistans Regierung zum Kampf gegen die Aufständischen aufgerufen. In einer Fernsehansprache an die Nation sagte Präsident Ashraf Ghani, die erneute Mobilisierung der afghanischen Armee habe nun Vorrang. In seinem ersten öffentlichen Erscheinen seit Tagen bat Ghani zudem die internationale Gemeinschaft um Hilfe im Kampf gegen die Taliban.

Er sei sich der schlimmen Lage bewusst und sehe es als seine «historische Aufgabe» an zu verhindern, dass weiter unschuldige Menschen getötet würden und die Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre verloren gingen, sagte Ghani am Samstag. Er habe Gespräche mit politischen Führern des Landes und internationalen Partnern begonnen und wolle «bald» Ergebnisse vorstellen.

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani steht wegen des Vorrückens der Taliban unter Druck.

Die USA hatten der afghanischen Armee am Freitag mangelnden Einsatzwillen vorgeworfen. Washington beobachte mit «grosser Sorge», mit welcher Geschwindigkeit die Taliban ihre Kontrolle über Afghanistan ausbauten sowie den «Mangel an Widerstand, mit dem sie konfrontiert sind», kritisierte Pentagon-Sprecher John Kirby.

US-Präsident Joe Biden hat sich angesichts der dramatischen Situation mit seinem nationalen Sicherheitsteam ausgetauscht. Bei einer Videokonferenz habe man die laufenden Bemühungen «zum Abbau der zivilen Präsenz in Afghanistan» erörtert, schrieb das Weisse Haus am Samstag auf Twitter. Auch Vize-Präsidentin Kamala Harris war demnach bei dem Treffen zugeschaltet, in dem es auch um das schwere Erdbeben auf Haiti ging. Biden hält sich aktuell in Camp David, dem Landsitz des US-Präsidenten im US-Bundesstaat Maryland auf. Weitere Details zu der Videoschalte waren zunächst nicht bekannt.

Biden: Endlose Präsenz nicht akzeptabel

US-Präsident Joe Biden hat trotz des rasanten Vormarsches der Taliban erneut den Abzug der US-Truppen aus dem Krisenstaat verteidigt. «Ein weiteres Jahr oder fünf weitere Jahre US-Militärpräsenz hätten keinen Unterschied gemacht, wenn das afghanische Militär sein eigenes Land nicht halten kann oder will», hiess es am Samstag in einer Mitteilung des Präsidenten. Eine endlose amerikanische Präsenz inmitten eines Bürgerkriegs in einem anderen Land sei für ihn nicht akzeptabel gewesen.

«Ich war der vierte Präsident, der eine amerikanische Truppenpräsenz in Afghanistan geleitet hat – zwei Republikaner, zwei Demokraten», so Biden. Er werde «diesen Krieg nicht an einen fünften Präsidenten weitergeben».

Taliban erobern Mazar-i-Sharif…

Am Samstag haben die Taliban auch die Grossstadt Mazar-i-Sharif, wo die deutsche Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier hatte, eingenommen. Den Fall der Stadt bestätigten eine Sicherheitsquelle und ein Provinzrat der Deutschen Presse-Agentur.

Die Islamisten hatten die Stadt seit rund einer Woche immer wieder an den Aussengrenzen angegriffen. Sie versuchten, von mehreren Seiten in die auch wirtschaftlich wichtige Metropole mit geschätzt 500’000 Einwohnern einzudringen. Milizen des Ex-Gouverneurs Mohammad Atta Nur und des Ex-Kriegsfürsten Abdulrashid Dostum hatten zuletzt nördlich der Stadt eine zusätzliche Verteidigungslinie zur Unterstützung der Sicherheitskräfte aufgebaut.

Noch am Samstagmorgen (Ortszeit) hiess es von Provinzräten, ein weiterer Angriff auf Mazar-i-Sharif sei zurückgeschlagen worden. Am Abend hiess es aus Sicherheitskreisen, die Islamisten seien gegen 21 Uhr (Ortszeit) in die Stadt eingedrungen. Daraufhin hätten sie Gefangene aus dem Zentralgefängnis der Stadt freigelassen.

…und hissen Flagge

Nur rund zwei Stunden später erklärte der Provinzrat Sabiullah Kakar, die Stadt sei vollständig unter Kontrolle der Islamisten. Auch das 209. Armeekorps am Rande der Stadt sei gefallen, durch einen «Deal» mit den Islamisten. Alle Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre, sagte Kakar weiter, seien zunichte. Aus Sicherheitskreisen hiess weiter, ein grosser Teil der Sicherheitskräfte habe sich in den Bezirk Tschahar Kent und in das Camp Marmal in der Nähe des Flughafens zurückgezogen. In sozialen Medien wurden Bilder von Taliban geteilt, die bei der berühmten Blauen Moschee ihre Fahne anbrachten.

Zwei Quellen in Masar-i-Scharif sagten, die Stadt sei praktisch ohne Gegenwehr gefallen. Mohammad Atta Nur schrieb kurz vor Mitternacht auf Facebook, es seien in einer «gross angelegten, organisierten und feigen Verschwörung» alle Regierungseinrichtungen und Regierungskräfte an die Taliban übergeben worden. Nähere Details wolle er zu einem späteren Zeitpunkt mitteilen. Der Gouverneur, Dostum und andere Regierungsvertreter seien an einem sicheren Ort.

Seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan Mitte April haben die Taliban grosse Teile des Landes erobert. Mittlerweile stehen 20 der 34 Provinzhauptstädte unter ihrer Kontrolle. Landesweit gingen die Kämpfe am Samstag in mindestens fünf Provinzen weiter. Die militanten Islamisten konnten zwei kleine Provinzhauptstädte übernehmen.

Sharana in der Provinz Paktia mit geschätzt 66’000 Einwohnern sei nach Vermittlung Ältester den Taliban kampflos übergeben worden, bestätigten lokale Behördenvertreter. Wenig später bestätigten mehrere lokale Behördenvertreter, dass Regierungsvertreter und Sicherheitskräfte auch Asadabad, die Hauptstadt der Provinz Kunar im Osten des Landes mit geschätzt 40’000 Einwohnern, verlassen hätten. Man habe so zivile Opfer und Zerstörung verhindern wollen.

Zuvor waren mit Herat und Kandahar bereits die dritt- und die zweitgrösste Stadt des Landes an die Islamisten gefallen. Mit Pul-i Alam in der Provinz Logar haben die Taliban auch eine Provinzhauptstadt rund 70 Kilometer südlich von Kabul eingenommen.

Schweiz reagiert auf dramatische Entwicklungen

Westliche Staaten beschleunigen derweil ihre Bemühungen, eigenes Personal und afghanische Ortskräfte vor den rasch vorrückenden Taliban in Sicherheit zu bringen. Das US-Aussenministerium kündigte an, dass die dazu gedachte Verstärkung der US-Truppen in Afghanistan um rund 3000 Soldaten bis Sonntag grösstenteils in Kabul sein werde. Rund 5000 weitere Soldaten werden zudem im Nahen Osten stationiert, um als mögliche Verstärkung bereitzustehen. Biden warnte die Taliban davor, die Mission zu behindern. Angriffe auf US-Interessen würden rasch und energisch beantwortet.

Der britische Premier Boris Johnson sagte, Mitarbeiter der britischen Botschaft sollten Kabul binnen Tagen verlassen. Auch die Schweiz handelt: Sie schliesst das Kooperationsbüro in Kabul. Dort arbeiteten sechs Personen aus der Schweiz. Drei von ihnen sind bereits abgereist. Die übrigen würden so rasch wie möglich abreisen, sagte EDA-Staatssekretärin Livia Leu am Freitagabend vor den Medien.

Staatssekretärin Livia Leu (rechts), Staatssekretär Mario Gattiker und Deza-Leiterin Patricia Danzi äussern sich zur Lage in Afghanistan und zu den Massnahmen der Schweiz.

Frankreich will afghanischen Ortskräften und anderen gefährdeten Personengruppen unkompliziert Schutz in Frankreich gewähren. Als eines von nur drei Ländern stelle Frankreich weiterhin in Kabul Visa aus, hiess es am Freitagabend aus Élyséekreisen. Man bemühe sich ausserordentlich, afghanischen Künstlern, Journalisten und Vorkämpfern der Menschenrechte den Zugang nach Frankreich zu erleichtern. Zwischen Mai und Juli seien bereits 625 afghanische Ortskräfte samt Familien in Frankreich aufgenommen worden.

Mangelnde Kampfmoral?

Der frühere Nato-General Hans-Lothar Domröse plädiert nach dem Scheitern des Afghanistan-Einsatzes für ein Überdenken des Vorgehens bei Militärengagements ausserhalb Europas. «Unser gesamtes Konzept «train assist advise» (ausbilden, unterstützen, beraten) werden wir überprüfen müssen und wir müssen fairerweise die Frage stellen: Funktioniert das ausserhalb Europas? Scheinbar nicht», sagte der Heeresgeneral am Samstag in NDR Info. Man müsse bei Auslandseinsätzen vorher politische Ziele klar setzen, langen Durchhaltewillen zeigen – oder eben nicht hingehen.

Der Westen habe in Afghanistan «350’000 Sicherheitskräfte ausgebildet, recht gut ausgerüstet. Da fliegen mehr Hubschrauber bei denen als bei der Bundeswehr. Also: Sie haben sie nicht eingesetzt, und warum nicht?» Es mangele an Kampfmoral und Loyalität, sagte Domröse. Den Soldaten «fehlt das Wofür».

Katar fordert Taliban zu Waffenstillstand auf

Die Regierung von Katar hat die Taliban zur Deeskalation aufgefordert. Die Taliban müssten einen Waffenstillstand annehmen und damit zu einer «umfassenden politischen Lösung» für Afghanistan beitragen, erklärte das katarische Aussenministerium am Samstag. Zuvor hatte sich der katarische Aussenminister Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al-Thani mit dem Chef des politischen Büros der Taliban in Doha, Mullah Abdul Ghani Baradar, getroffen.

Es ist die bislang deutlichste Aufforderung Katars an die Taliban, ihre gewaltsame Offensive in Afghanistan zu drosseln. Katar richtet die innerafghanischen Friedensgespräche aus, die seit Monaten nicht vorankommen.

afp/sda