Afghanistan nach dem US-AbzugTaliban feiern Parade – Afghanen stehen Schlange, um an Geld zu kommen
Der letzte US-Soldat hat Afghanistan verlassen, seither ist das Land komplett in den Händen der Taliban. Die Lage vor Ort, rekonstruiert anhand von Berichten der wenigen verbliebenen Journalisten und Social Media.
Vorgestern hat der letzte US-Soldat Kabul per Frachtflugzeug verlassen – und damit das Ende des 20-jährigen Einsatzes Amerikas in Afghanistan besiegelt. Wer konnte, hat das Land bereits verlassen, das sich nun komplett in den Händen der islamistischen Taliban befindet.
An Tag zwei geht es in der Hauptstadt geschäftig zu und her, wie Paul Ronzheimer von «Bild» vor Ort berichtet. Das Strassenbild wird beherrscht von Taliban-Kämpfern, die an den Checkpoints Passanten überprüfen. Im Gegensatz zum ersten Tag nach dem US-Truppenabzug ist nun auch die zivile Bevölkerung unterwegs: Hunderte Afghanen stehen Schlange vor den Banken, wie auch BBC-Korrespondentin Lyse Doucet auf Twitter schreibt. Sie versuchen, an Bargeld zu kommen.
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Die wirtschaftliche Lage im Land ist prekär. Bereits seit der Machtübernahme der Taliban droht in Kabul das Bargeld auszugehen. Eine Bargeldgrenze wurde eingeführt, wie die Nachrichtenagentur SDA vor einer Woche berichtete. Mehrere Banken mussten bereits schliessen, die meisten Bancomaten spucken schon länger nichts ausser Quittungen aus. Viele Afghanen haben durch die Eroberung der Islamisten ihren Job verloren, gleichzeitig schiessen die Preise für immer knapper werdende Lebensmittel in die Höhe.
UN-Generalsekretär António Guterres warnt am Mittwoch vor dem völligen Kollaps der Grundversorgung im Land und einer sich dadurch anbahnenden humanitären Katastrophe: «Fast die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans – 18 Millionen Menschen – ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben. Jeder dritte Afghane weiss nicht, woher seine nächste Mahlzeit kommen wird. Mehr als die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren wird im nächsten Jahr voraussichtlich akut unterernährt sein.»
«Unheimliche Stille» am ersten Tag
Während es am zweiten Tag geschäftig zu- und hergeht, berichtet die «Washington Post» von einer «unheimlichen Stille», die am ersten Tag nach Stunde null auf den Strassen Kabuls herrschte. Die Tausenden Afghanen um den Flughafen, die zuvor noch verzweifelt zu fliehen versuchten, waren plötzlich verschwunden. Nach der Stunde null säumten fast nur noch Taliban die Strassen. Mullah Raz Muhammad Zarkawi, ein 27-jähriger Taliban-Kämpfer aus der Provinz Farah, ist das erste Mal in seinem Leben in der afghanischen Hauptstadt und schwärmt: «Kabul wird bald eine der schönsten Städte in der Welt sein.»
Zivilbevölkerung fehlte gestern noch völlig auf den Strassen. Was darauf hindeutet, dass die meisten Afghanen im besten Fall die Freude der Taliban nicht teilen – im schlimmsten Fall aus Angst ihre Häuser nicht verliessen. «Es ist ein Sieg für die Taliban, aber gleichzeitig ein grauenerregender Moment für die Leute von Kabul», erzählt eine 23-Jährige, die seit der Übernahme der Taliban ihr Zuhause nicht mehr verlassen hat. «Ich glaube nicht, dass ich den Taliban jemals trauen werde.» Die Entwicklungshelferin, die aus Angst vor Repressalien anonym bleiben will, fügt hinzu: «Für uns sehe ich nichts ausser einer düsteren Zukunft.»
Berichterstattung via Social Media
Mit der Übernahme der Taliban hat sich neben der wirtschaftlichen Lage auch die Nachrichtensituation stark verschlechtert. Während internationale Firmen, Hilfsorganisationen und Botschaften darum bemüht waren, ihre Leute in Sicherheit zu bringen, blieben nur wenige im Land, die unabhängig über die Lage berichten können. Unabhängige News kommen vermehrt via Social Media und von den wenigen Reportern, die noch in Afghanistan ausharren.
Auch das US-Militär hatte die Berichterstattung während des Abzugs deutlich behindert, als es mehrere Vertreter der Medien dazu zwang, das Land zu verlassen. So tweetete «Bild»-Reporter Paul Ronzheimer am 26. August aus dem Frachtflugzeug, in das er von amerikanischen Soldaten gegen seinen Willen gesteckt wurde. Der Journalist konnte unterdessen wieder zurückkehren und berichtet zurzeit erneut aus den Strassen Kabuls.
Doch nicht allen, die zurück wollten, ist dies bisher gelungen. So wartet Marianne O'Gradys von Care International seit ihrer Evakuation vor einer Woche auf einen Flug nach Kabul, wie «Spiegel» berichtet. Und das, obwohl die Taliban um die weitere Unterstützung von Hilfsorganisationen gebeten haben.
«Ihr grösster Traum ist wahr geworden»
Währenddessen haben Taliban-Kämpfer in Kandahar bei einer Parade erbeutetes US-Militärgerät zur Schau gestellt. Eine lange Reihe grüner Humvee-Geländefahrzeuge wartete am Mittwoch auf einer Autobahn vor der Stadt Kandahar, der Geburtsstätte der Islamistenbewegung, wie ein AFP-Reporter berichtete. Viele der bei der Machtübernahme erbeuteten Fahrzeuge aus US-Herstellung hatten die weiss-schwarze Taliban-Flagge an ihre Antennen montiert. Auf Videos, die von den Taliban im Internet verbreiteten wurden, war ein Helikopter über der vorbereiteten Parade zu sehen, der ein Banner der Miliz hinter sich her zog. Zahlreiche Kämpfer der Islamisten jubelten der Maschine zu.
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In den vergangenen Tagen war mindestens ein Black-Hawk-Helikopter des US-Militärs über Kandahar gesichtet worden. Da die Taliban bislang nicht über qualifizierte Piloten verfügten, wird davon ausgegangen, dass jemand aus der ehemaligen afghanischen Armee das Gerät steuerte.
Die Taliban fühlen sich derweil als Sieger. «Ihr grösster Traum ist wahr geworden. Sie haben in Generationen gegen den Westen, gegen die afghanische Regierung gekämpft. Und jetzt verhandeln sie offiziell mit der Bundesregierung, kontrollieren die Strassen von Kabul», berichtet Ronzheimer. Die Islamisten suchen zudem die Nähe zu den Medien. «Es ist nicht so, dass wir ständig bedroht werden. Die Taliban sind bereit, Interviews zu geben.»
Den in der Stadt verbliebenen Ortskräften soll keine Strafe drohen. So verspricht ein Kämpfer vor Ort, angesprochen auf deren Schicksal: «Es gibt eine Amnestie für alle.»
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Mit Material der AFP
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