Sturz von Diktator AssadFast alles spricht gegen Frieden – und doch könnten es die Syrer schaffen
Sollte Syrien das nächste Jahr als einheitlicher, souveräner Staat überstehen, wäre schon viel erreicht. Was die Welt tun sollte, um dabei zu helfen.
Als sich die Türen des Gefängnisses öffneten, des grössten und schrecklichsten im Land, taumelten die Gefangenen überwältigt ins Freie. Chaotische, kathartische Szenen folgten, schrieb der US-Reporter Anthony Shadid, begleitet von widersprüchlichen Gefühlen: «Leid und Erleichterung, Freiheit und Reue, Befreiung und Scham über das, was möglich gewesen war.» Shadids Buch «Night Draws Near» ist eine der hellsichtigsten Schilderungen des Irak während des US-Einmarsches. Das Gefängnis, das Saddam Hussein im Herbst 2002 in einem letzten hastigen Gnadenakt öffnen liess, war Abu Ghraib.
Die Verheissungen der USA wurden damals begleitet von Lügen, Selbstbetrug und Wirtschaftsinteressen, aber offiziell klangen sie betörend. Ein demokratischer, kapitalistischer, dem Westen zugetaner Irak sollte zum Modellfall für die ganze Region werden, hiess es, Domino-gleich würde ein arabischer Staat nach dem anderen folgen.
Heute weiss man: Der Irak wurde tatsächlich zum Modellfall, allerdings für das Risiko, das die kenntnisfreie Einmischung einer Supermacht in eine komplizierte Gesellschaft bedeutet. Der Widerstand gegen die Besatzung, die mörderische Konfrontation zwischen Sunniten und Schiiten, der Aufstieg des Iran, die Geburt des IS – nichts davon hatten die USA damals auch nur erahnt. Wenn heute die Reaktionen auf den Umsturz in Syrien eher verhalten ausfallen, dann liegt das auch am Scheitern der Amerikaner im Irak.
Syrer schafften den Umsturz allein
Syrien und Irak könnten freilich unterschiedlicher nicht sein. Im Irak erzwangen äussere Kräfte den Umsturz, in Syrien aber stützten fremde Mächte das Regime. Den Umsturz schafften die Syrer allein.
Spätestens seit dem Arabischen Frühling von 2011 aber herrscht auch über die Aussichten der Selbstbefreiung Ernüchterung. Keines der einst aufständischen Länder ist einer funktionierenden Demokratie auch nur nahe. Ägypten wird wieder einmal vom Militär regiert, Libyen ist geteilt und dysfunktional, Jemen desgleichen. Selbst das einstige Vorzeigeland Tunesien fällt in die Autokratie zurück.
Was heisst das für Syrien? Dass es ein vernünftiges Erwartungsmanagement braucht. Nach mehr als 50 Jahren Assad-Despotie, in denen Alawiten gegen Sunniten aufgehetzt wurden, nach 13 Jahren Bürgerkrieg, in denen fremde Mächte wie der Iran, Russland und die Türkei das Land zerstört und zerrissen haben, sind die Verheerungen in der Gesellschaft, den Städten, den Seelen der Menschen unermesslich. Sollte Syrien das nächste Jahr als einheitlicher, souveräner Staat überstehen, ohne Besatzung, ohne Bürgerkrieg, ohne neue politische Gefangene, wäre viel gewonnen.
Syriens neuer starker Mann Ahmed al-Sharaa, der sich in seiner Al-Qaida-Zeit Abu Mohammed al-Jolani nannte, macht vieles richtig. Er formt eine Übergangsregierung. Er hat die Drangsalierung von Frauen wegen ihrer Kleidung untersagt, versucht den Assad-treuen Alawiten die Angst zu nehmen und Drusen und Kurden für ein einiges Syrien zu gewinnen. Aber noch kontrolliert Al-Sharaa nur einen Teil des Landes. Und die Vorstellungen, wie diese Einigkeit aussehen sollte, gehen weit auseinander.
Umso riskanter wäre es, jetzt schon auf freie Wahlen zu drängen. Ohne freie Medien, ohne vertrauenswürdige Institutionen, ohne ein Minimum an Loyalität gegenüber dem Staat und eben nicht nur gegenüber der eigenen Religion, der ethnischen Gruppe oder dem Stamm, so hat der britische Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier herausgefunden, werden Wahlen zur Schaufensterveranstaltung.
Ein Ende der Sanktionen wäre hilfreich
Noch wirkt in Syrien der Zauber des Tyrannensturzes, aber das war in Libyen oder Ägypten anfangs genauso. Bald schon werden die Syrer die neuen Machthaber danach bewerten, ob sie Lebensmittel, Benzin und Strom beschaffen. Ein Ende der Sanktionen – die jederzeit wieder verhängt werden können – wäre hilfreich und ein Signal der Solidarität mit den leidgeprüften Syrern.
Europa und die USA frohlocken über die Pleite für Russland und den Iran, dabei hatten sie selbst Syrien im Grunde abgeschrieben. Umso fairer und klüger wäre es nun, die eigenen Verbündeten davon zu überzeugen, das geschwächte Land nicht weiter zu destabilisieren. Sie hätten durchaus Argumente. Die Türkei will Millionen syrische Flüchtlinge loswerden, aber das wird nicht gelingen, solange sie Milizen in Nordsyrien gegen die Kurden kämpfen lässt. Israel will Stabilität und konnte mit Assad leben. Aber je tiefer es auf syrischen Boden vorrückt, je häufiger es Militäranlagen in syrischen Städten bombardiert, desto schwächer wirkt Syriens neue Führung.
Dringend müssten die westlichen Länder nun Kontakt zu Syriens neuer Führung aufnehmen. Denn wenn sie sich nicht engagieren, auch dafür ist Syrien ein Beispiel, werden andere es tun.
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