Massenproteste in WeissrusslandStur bis in den Untergang
«Solange Sie mich nicht töten, wird es keine andere Wahl geben», sagt Langzeitpräsident Alexander Lukaschenko. Die EU entscheidet an einem Sondergipfel über Sanktionen.
Auch Proteste historischen Ausmasses scheinen Alexander Lukaschenko bisher nicht zu beeindrucken: Am Sonntag protestierten in Minsk und anderen weissrussischen Städten Hunderttausende gegen ihn, so viele Menschen wie nie zuvor. Am Montag zeigte sich der weissrussische Machthaber deshalb aber kein bisschen einsichtiger. Er besichtigte eine Fabrik eines Herstellers von Lastern und anderen schweren Maschinen, hielt anschliessend eine Rede vor den Arbeitern.
Irgendwann kam er auf die Frage nach fairen Wahlen zu sprechen. Freie Abstimmungen ohne Manipulationen sind die Hauptforderung derer, die derzeit demonstrieren – und in der gegenwärtigen Situation würde Lukaschenko freie Wahlen sicherlich deutlich verlieren. «Ich beantworte diese Frage», sagte er nun in der Fabrik. «Wir haben Wahlen abgehalten. Solange Sie mich nicht töten, wird es keine andere Wahl geben.» Allerdings erklärte er später im Staatsfernsehen: «Wir brauchen eine neue Verfassung. Dazu müssen wir aber ein Referendum abhalten.» Erst mit einer neuen Verfassung könnte es, falls gewünscht, neue Abstimmungen für den Posten des Präsidenten, des Parlaments und andere wichtige Ämter geben. Ob er das wirklich auch so meint, wird sich zeigen.
Doch die Abstimmung vom Sonntag vor einer Woche halten alle, die nun streiken und protestieren, für gefälscht. Mehr als 80 Prozent der Stimmen will Lukaschenko gewonnen haben, schon am Wahltag wurden Manipulationen offensichtlich. Als Lukaschenko mit dem Helikopter bei der Fabrik landete, buhten ihn die Arbeiter aus, riefen «Verschwinde!». Das Staatsfernsehen übertrug offenbar sogar diese offene Ablehnung gegen den Machthaber. Seine Behauptung, die Demonstrierenden seien arbeitslos, vom Ausland gesteuert und bezahlt, hört sich angesichts streikender Betriebe umso absurder an.
Lukaschenko geht auf Konfrontation
Die, auf die sich seine Macht bisher gestützt hat, etwa auf die vielen vom Staat abhängigen Arbeiter, wenden sich nun gegen ihn – sie legten in vielen Staatsbetrieben die Arbeit nieder. Das schadet seinem Regime wirtschaftlich, die Betriebsbosse könnten sich deshalb ebenfalls gegen den Präsidenten wenden. Und wie Polizei und Sicherheitskräfte reagieren, wenn sie sich plötzlich einem Protestzug von Werksarbeitern mit schwerem Gerät gegenübersehen, ist längst nicht ausgemacht.
Trotzdem ging Lukaschenko bei seiner Werksbesichtigung sofort auf Konfrontation. Sollte irgendjemand provozieren, sagte er einigen Arbeitern im Vorbeigehen, werde man hart darauf reagieren. Dass er trotz allem überhaupt kam, zeigt auf der anderen Seite, wie verzweifelt seine Lage inzwischen ist.
Am Vorabend im Staatsfernsehen behauptete er zwar noch, so ein kleiner Streik sei unbedeutend. Nun brachte er sogar seinen Sohn Nikolai mit, den er bei vielen wichtigen Auftritten beinahe wie einen royalen Nachfolger in den Job einführt, so ist jedenfalls spekuliert worden. Der Sohn steht dafür, dass es weitergeht.
Videobotschaft von Tichanowskaja
Aus dem Ausland meldete sich nun die Frau zu Wort, die für eine andere Zukunft von Weissrussland stehen könnte: Präsidentenkandidatin Swetlana Tichanowskaja, die nach offiziellen Angaben nur zehn Prozent der Stimmen bekommen haben soll, bot an, nach Minsk zurückzukehren und die politische Führung zu übernehmen. Tichanowskaja war nach der Wahl in das EU-Land Litauen geflohen.
In einer neuen Videobotschaft signalisierte sie die Bereitschaft, Weissrussland zu führen: «Ich bin bereit, in dieser Zeit Verantwortung zu übernehmen und als nationale Anführerin aufzutreten», sagte die 37-jährige Oppositionelle. Damit hoffe sie, dass sich das Land beruhige, alle politischen Gefangenen freigelassen und so bald wie möglich neue Wahlen angesetzt werden könnten. Tichanowskaja forderte in dem Video die Sicherheitskräfte und Mitarbeiter der Justiz auf, die Seite zu wechseln. Noch aber steht der Sicherheitsapparat auf der Seite des Langzeitpräsidenten.
Nach Angaben der Minsker Generalstaatsanwaltschaft sind unterdessen fast alle inhaftierten Demonstranten wieder freigelassen worden. Das teilte die Behörde am Montag der Staatsagentur Belta zufolge mit. Von den rund 7000 Festgenommenen aus der vergangenen Woche seien «praktisch» alle wieder frei, hiess es.
Sicherheitskräfte waren zunächst mit brutaler Gewalt gegen Demonstranten und friedliche Bürger vorgegangen. Nach scharfer internationaler Kritik wurden bereits am Freitag 2000 Menschen freigelassen. Sie berichteten vielfach von Gewalt und Misshandlungen. Nach Angaben des Ermittlungskomitees gab es Hunderte Beschwerden. Bei den Protesten am Sonntag dann zeigten die Sicherheitskräfte eine andere Gangart: Während Zehntausende die Freilassung der Festgenommenen forderten, hielten sich die Einsatzkräfte zurück, es gab nur wenige Verhaftungen.
EU-Sondergipfel am Mittwoch
Dennoch wächst auch international der Druck auf die weissrussische Führung: EU-Ratschef Charles Michel setzte für Mittwoch einen Sondergipfel zur Lage in der Ex-Sowjetrepublik an und nannte die Gewalt gegen Demonstranten «inakzeptabel». Michel betonte, die Menschen in Weissrussland hätten das Recht, über ihre Zukunft zu entscheiden und ihre Führung frei zu wählen.
Aus EU-Kreisen hiess es, die EU wolle eine wichtige Nachricht der Solidarität an die Menschen in Weissrussland senden. Möglichen EU-Sanktionen würde sich auch Grossbritannien anschliessen. London erkennt Lukaschenkos Wahlsieg nicht an. Aussenminister Dominic Raab sprach von «Betrug» und «schweren Mängeln» bei den Präsidentenwahlen in Weissrussland.
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