Massenproteste in WeissrusslandUm Lukaschenko wird es einsam
Der weissrussische Autokrat hat Getreue nach Minsk reisen lassen, die für ihn demonstrieren sollten. Doch für die Gegenseite kamen über Hunderttausend Menschen – so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Sie sind auf den Unabhängigkeitsplatz in Minsk gekommen, um für den Machthaber zu jubeln. «Für Lukaschenko!» rufen ein paar Tausend Menschen am Sonntag. «Für Lukaschenko»: Das war das Motto der Demonstration, die der bejubelte Präsident von Belarus persönlich bestellt hatte.
Und dann steht er plötzlich vor ihnen: Er möge Kundgebungen nicht, ruft Alexander Lukaschenko ihnen zu, «aber es ist nicht mein Fehler, dass ich euch hierherrufen musste». Er ruft seine Unterstützer auf, ihn und das Land zu verteidigen. Wenn er zerstört werde, sagt der Machthaber, sei dies der Anfang vom Ende für Weissrussland. Eine Wiederholung der Wahlen lehnte er ab.
Der grösste Protest seit Jahrzehnten
Es war eine verzweifelte Rede. Nach einer Woche heftiger Proteste wollte Alexander Lukaschenko zeigen, dass eine Mehrheit der Weissrussen hinter ihm stehe. Er hat Getreue aus den Regionen anreisen lassen – sie waren in der Minderheit. Während Lukaschenko sprach, versammelten sich Demonstrierende gegen ihn und «für die Freiheit» am Siegespark. Dort kamen weit mehr als 100’000 Menschen zusammen, schätzen weissrussische Medien, zum grössten Protest seit Jahrzehnten. Später zogen sie weiter zum Parlament, dorthin, wo sich Lukaschenko zuvor hatte bejubeln lassen.
Nur einer steht immer einsamer da: Alexander Lukaschenko.
Der Präsident beharrt weiterhin darauf, dass die Bedrohung aus dem Ausland komme. Er will nun Fallschirmjäger in den Westen verlegen, an die Grenze zu Polen, und begründete dies mit Nato-Übungen in der Region. «Natürlich können wir uns das nicht ruhig anschauen», sagte er am Samstag in einer Sitzung des Generalstabs. Doch in seiner Bedrängnis beginnt Lukaschenko längst, sich selbst zu widersprechen.
Telefonate mit dem Kreml
Vor der Wahl warnte er vor einer Einmischung durch Russland. Am Samstag und Sonntag telefonierte er gleich zweimal mit Wladimir Putin und bat Russlands Präsidenten offenbar genau um dies. Nach Lukaschenkos Worten habe der Kremlchef ihm Unterstützung angeboten. Vom Kreml hiess es zunächst nur, die Probleme seien sicher bald beigelegt. Hauptsache seien die guten Beziehungen zwischen den Ländern. Dass Lukaschenko seinen Job behält, scheint für Moskau nicht oberste Priorität zu haben.
Lukaschenkos alte Taktiken greifen nicht mehr. Früher konnte sein Regime Demonstrierende mit überzogener Gewalt einschüchtern. Auch dieses Mal haben Polizei und die berüchtigten Omon-Spezialkräfte 6700 Menschen festgenommen. Viele von ihnen bringen nach der Entlassung schwere Verletzungen, mindestens aber Blutergüsse mit, sie berichten von Tritten und Schlägen, von überfüllten Zellen und Wassermangel, und davon, wie die Festgenommenen in ihrem eigenen Blut auf dem Boden liegen mussten. Die Mehrheit ist jedoch immer noch in Haft, ihre Angehörigen wissen nicht, wie es ihnen geht.
Ein mysteriöser Todesfall
Ein 25-Jähriger starb in Polizeigewahrsam, die Todesursache ist noch nicht geklärt. Er wurde am Sonntag beigesetzt. In Minsk gedachten am Samstag mehr als 5000 Menschen eines weiteren Toten: Alexander Taraikowski kam in der Nacht auf Dienstag während der Proteste ums Leben. Ein Sprengsatz soll in seiner Hand explodiert sein, doch an die offizielle Darstellung wollen viele nicht glauben. Augenzeugen berichteten, er habe nichts in der Hand gehalten, sondern sei von etwas getroffen worden.
Während immer mehr Folterberichte aus den Gefängnissen öffentlich wurden, setzten die Protestierenden auf Friedensgesten. Frauen umarmten die Einsatzkräfte und steckten Blumen an deren Schilde. Immer wieder hatten sich auch Menschenketten in den Städten gebildet, oft waren es Frauen, viele trugen Weiss, die Farbe von Lukaschenkos geflohener Gegenkandidatin. Eine Menschenkette durchs ganze Land, von Litauen bis in die Ukraine, sagte Lukaschenko nun, werde er zu verhindern wissen.
Polizisten werfen ihre Uniformen weg
Der Widerstand gegen ihn ist jedoch grossflächig. Prominente Moderatoren aus den Staatsmedien kündigten ihre Jobs, die ersten Angestellten der Präsidentialverwaltung ebenfalls. Polizisten warfen ihre Uniformen weg und stellten Videos davon ins Internet. Bekannte Sportler sprachen sich gegen den Machthaber aus. Die vierfache Biathlon-Olympiasiegerin Darja Domratschewa schrieb angesichts der Härte der Einsatzkräfte auf Instagram: «Lasst diesen ungerechten Horror auf den Strassen nicht weitergehen.»
Seit Lukaschenko erklärt hatte, die Demonstrierenden seien Schafe, und nur Arbeitslose und Kriminelle gingen zu den Protesten, traten immer mehr Staatsbetriebe in den Streik. Am Freitag marschierten die Arbeiter der Traktorenfabrik MTZ in Minsk zum Protest. «Wir sind keine Schafe, wir sind keine Herde, wir sind keine kleinen Leute», stand auf ihrem Banner. In Hrodna an der polnischen Grenze hörten die Mitarbeiter eines Textilherstellers in einer Halle ihrem Chef zu. Da rief plötzlich einer: «Wer hat für Tichanowskaja gestimmt?» – fast alle standen auf.
Oppositionsführerin fordert Gewaltverzicht
Swetlana Tichanowskaja hat am Freitag per Videobotschaft zum friedlichen Protest aufgerufen. Sie habe immer gesagt, dass sie die Wahl nur auf «legale, gewaltfreie Weise» verteidigen sollten. Aber die Behörden hätten die friedliche Demonstration «in ein blutiges Massaker» verwandelt. Nun appelliere sie an die Bürgermeister der Städte: «Geht raus und fangt an, zu reden und den Leuten zuzuhören.»
Sie will einen Koordinierungsrat für die Machtübergabe gründen. Für diesen Rat können sich Vertreter der Gesellschaft bewerben, Leute mit Expertise und Kontakten, aus Parteien und Gewerkschaften. «Wir brauchen wirklich Ihre Hilfe und Erfahrung», sagte die Oppositionsführerin.
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