Stimmt Johnson einer Grenze zu, die das Königreich zerschneidet?
Der britische Premier steht beim Brexit vor einem Dilemma: Er muss womöglich einen Deal akzeptieren, den Theresa May abgelehnt hatte.
Es gibt Räume in den hinterletzten Winkeln von Westminster, in denen sich manchmal Wichtigeres abspielt als im berühmten Unterhaus mit seinen grünen Ledersitzen und seiner Holztäfelung. Der Raum etwa, in dem das «Select Committee for Exiting the European Union», vulgo der Brexit-Ausschuss des Parlaments, am Mittwoch tagte, ist modern und hat lindgrüne Funktionsmöbel. In diesem Ausschuss vollzog sich, während in Brüssel um einen Deal und in der Downing Street um die Zustimmung der nordirischen DUP zu einem solchen Deal gerungen wurde, ein Minidrama.
Hilary Benn ist der Vorsitzende des Komitees. Nach ihm ist der Benn Act benannt; jenes Gesetz, das die Abgeordneten noch schnell vor ihrer ersten Zwangspause verabschiedeten und in dem festgeschrieben steht, dass der Premierminister am 19. Oktober, also an diesem Samstag, um eine Brexit-Verschiebung bitten muss, falls ein Deal nicht zustande kommt. Boris Johnson hat bekanntlich geschworen, lieber in einem Graben zu sterben, als eine Verlängerung zu beantragen.
Aber als Benn am Mittwochmorgen Brexit-Minister Stephen Barclay fragte, was Johnson zu tun gedenke, wenn die Verhandlungen zwischen Grossbritannien und den EU-27 auf dem Gipfel nicht zu einem Abschluss kommen, sagte Barclay, sehr geschraubt, gewunden und zögerlich: Ja, der Premier werde dann wohl diesen Brief schreiben. Benn musste dreimal nachfragen, dreimal rettete sich der Minister in juristischen Fachjargon, aber irgendwann war es raus. Boris Johnson, so Barclay, werde sich an das Gesetz halten.
Hält sich Johnson an das Gesetz?
Das wäre normalerweise in einem Rechtsstaat wie Grossbritannien keine Nachricht, aber im Land von Johnson und Brexit ist es eine. Denn während die Regierung zusichert, sie werde eine Verlängerung hinnehmen, wenn sie müsse, verschickt sie weiter über die sozialen Medien ihre Botschaft: «Wir treten am 31. Oktober aus. Ohne Wenn und Aber.» Nur: Beides zugleich, pünktlicher Austritt und weitere Verhandlungen, wird nicht funktionieren.
Die zweite Nachricht, die aus dem Select Committee nach draussen drang, waren die Forderungen und Bedenken der nordirischen DUP. Parteichefin Arlene Foster und Unterhaus-Fraktionschef Nigel Dodds verhandeln seit Tagen mit dem Team des Premiers in der Downing Street; am Dienstagabend waren sie 90 Minuten lang ins Gebet genommen worden. Danach sagte Foster, sie wolle auch einen Deal, aber es gebe noch zu viele ungeklärte Probleme. Dodds liess wissen, man sei auch mit viel Geld nicht zu überzeugen.
Am Mittwochmorgen wurden die beiden wieder im Regierungssitz gesehen und betonten erneut, sie würden sich weder mit hohen Investitionen noch mit Schuldzuweisungen unter Druck setzen lassen. Ihr Credo sei einzig die Einheit des Königreichs, ihre Forderung: Nordirland müsse – auch mit Blick auf das Zollregime – integraler Teil der Union bleiben. Konkret wurden sie aber nicht.
Ein Vetorecht für die DUP?
Unterdessen sass der Brexit-Sprecher der DUP, Sammy Wilson, im zweiten Stock des Parlaments, und schickte verschlüsselte Signale, die er in Fragen an den Brexit-Minister verpackte. Demnach werden die zehn Abgeordneten der DUP nur für einen Deal stimmen, wenn das Parlament in Belfast über eine Lösung für Nordirland mitentscheiden kann. Und zwar nicht nur mit einfacher Mehrheit, sondern, wie im Karfreitagsabkommen vorgesehen, mit qualifizierter Mehrheit. Das aber würde der DUP ein Veto geben – was Johnson erst gefordert, dann aber offenbar verworfen hatte und was die EU vehement ablehnt.
Dodds teilte ausserdem mit, man sei gegen einen De-facto-Verbleib Nordirlands in der EU-Zollunion, denn Zollkontrollen schädigten die Wirtschaft. Beides aber wurde in den vergangenen Stunden, dem Vernehmen nach, in Brüssel und London debattiert und könnte Kern eines neuen Deals sein. Und so twitterte die BBC-Journalistin Laura Kuenssberg, die jede Regung in der Downing Street mitbekommt, am Mittag erschöpft: «Kein Zeichen für einen Durchbruch nach dem Treffen mit der DUP. Nur Seufzer und Sorgen – nicht nur wegen der ungelösten Grenzfragen. Es sieht nach einem langen, harten Tag für alle aus.»
Mit dem Zögern der Nordiren aber schwindet die Mehrheit im Unterhaus dahin, die Johnson bräuchte, um – vor oder nach dem 31. Oktober – einen Vertrag zustandezubringen. Denn wenn die DUP nicht mitgeht, gehen zahlreiche Hardliner bei den Tories nicht mit. Auch Labour versucht, schwankende Abgeordnete daran zu hindern, für einen Deal zu stimmen, die einfach wollen, dass endlich Schluss ist mit dem Gezerre. Am kommenden Samstag soll das Unterhaus zusammentreten, um abzustimmen. Die Frage ist derzeit allerdings: Worüber?
Nun, sollte es beim EU-Gipfel doch noch einen Deal geben, müssten die Abgeordneten wohl über einen Vertrag abstimmen, dessen Inhalt Johnsons Vorgängerin Theresa May noch vehement abgelehnt hatte. Niemals, erklärte sie einst stolz, könne ein britischer Premierminister zulassen, dass es eine Zollgrenze in der Irischen See gebe. Schliesslich dürfe es keine Grenze geben, die das Vereinigte Königreich teile. Doch genau darauf schien es in den Verhandlungen am Mittwoch hinauszulaufen.
Um Kontrollen an der Grenze zwischen Irland und Nordirland zu verhindern, einigte sich Johnson mit den EU-Verhandlern auf eine Sonderregelung. Demnach soll Nordirland de jure Teil der britischen Zollunion sein, aber de facto EU-Zollregeln anwenden. Auf der irischen Insel könnte also alles weiterlaufen wie bisher. Doch zwischen Nordirland und Grossbritannien verliefe dann eine Zollgrenze. An den nordirischen Häfen müssten Zöllner die aus dem Rest des Vereinigten Königreichs eingeführten Produkte kontrollieren. Für die DUP war das stets No-Go, denn plötzlich wäre das Vereinigte Königreich zumindest zolltechnisch nicht mehr vereint. Warum sollte sie diesem Plan also zustimmen?
Der Brexit wird teuer
Nach aussen tat die DUP zwar so, als liesse sie sich nicht von London kaufen. In den Gesprächen mit Johnson ging es dem Vernehmen nach aber immer wieder ums Geld. Aus Downing Street verlautete jedenfalls, dass der Premierminister grosszügige finanzielle Hilfen für Nordirland in Aussicht gestellt habe. Es wäre nicht das erste Mal, dass Geld Verhandlungsblockaden löst.
Nur: Offenbar war Johnsons Angebot nicht das, was sich DUP-Chefin Foster vorgestellt hatte. So berichtete die Financial Times, dass sie «nicht Millionen, sondern Milliarden» für Nordirland gefordert haben soll. Für Johnson dürfte am Mittwochabend zumindest eines festgestanden haben: Der Brexit wird verdammt teuer.
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