«Stasi-Methoden»: Zalando überwacht seine Mitarbeiter
Bei Zalando beurteilen Mitarbeiter gegenseitig ihre Leistung. Dies sei ein Fortschritt – Angestellte und Forscher sprechen hingegen von Überwachung.
Als sich Marianne Meier damals bei Zalando bewarb, hatte sie auch Schlechtes gehört: «Etwa, dass du da nur weiterkommst, wenn du Chefs Zucker in den Arsch bläst.» Marianne Meier (Name wie bei anderen Mitarbeitern geändert) dachte, so reden halt ein paar Frustrierte – und heuerte bei Europas grösstem Onlinemodehändler an. Inzwischen ist die Führungskraft selbst frustriert. Das hat viel mit dem Personalsystem Zonar zu tun: «Egal, wie gut dein Feedback ist, der Chef kann es auslegen, wie er will. Mag er dich nicht, ekelt er dich aus der Firma.»
Zonar, das Zalando bei 5000 von 14'000 Beschäftigten einsetzt, erinnert an Kundennoten im Internet. Nur werden hier nicht Produkte bewertet, sondern Menschen. Mit der Software beurteilen Vorgesetzte und Mitarbeiter umfassend die Stärken und Schwächen von Kollegen, zum Beispiel deren Leistung und soziales Verhalten.
Ein Klima der Angst
«Im Kern geht es darum, Beschäftigte permanent zu bewerten, zu kontrollieren und zu sanktionieren», sagen Philipp Staab und Sascha-Christopher Geschke von der Berliner Humboldt-Universität. Sie arbeiteten im Auftrag der gewerkschaftsnahen deutschen Böckler-Stiftung zwei Jahre an einer 60-seitigen Studie.
Ihre Hauptvorwürfe: Zalando erzeuge Überwachung, Leistungsdruck und Stress. Mit Zonar drücke der rasant auf mehr als fünf Milliarden Euro Umsatz gewachsene Konzern Löhne und schaffe ein Klima der Angst. Mitarbeiter, gerade befristet angestellte, fürchteten um ihren Arbeitsplatz.
Solche Personalsysteme könnten sich in der ganzen Berufswelt verbreiten, heisst es in der Studie: «Von Zalando als Leitunternehmen der Digitalisierung geht eine Leuchtturmfunktion aus.» Der Handelsgigant Amazon löste 2015 mit einem ähnlichen Programm in den USA Empörung aus. Mitarbeiter beklagten übergrossen Druck.
Zalando spricht von «360-Grad-Feedback»
Zalando, das in 17 Länder Europas liefert, stellt sein System positiv dar: «Zonar ist ein wichtiger Bestandteil unseres Talentmanagements, mit dem wir Mitarbeitern und Führungskräften gleichermassen die Möglichkeit geben, sich 360-Grad-Feedback einzuholen und zu geben.»
Früher habe allein die jeweilige Führungskraft entschieden, ob jemand befördert werde oder mehr Gehalt bekomme, sagt Personalchefin Astrid Arndt am Zalando-Hauptsitz in Berlin. «Jetzt fliesst ein, wie Kollegen, firmeninterne Kunden und Führungskräfte über einen denken. Dieses System ist fairer als vorher.» Man unterstütze die Entwicklung jedes Mitarbeiters durch «gelebte Feedback-Kultur».
Gute Miene zum bösen Spiel
Befragte Mitarbeiter sehen das anders. «Es ist eine 360-Grad-Überwachung», sagt einer. «Ich kann nicht einfach mal einen schlechten Tag haben.» Monate später schlage sich eine Situation, an die er sich gar nicht mehr erinnere, in einer Beurteilung nieder. «Man muss die ganze Zeit gute Miene zum bösen Spiel machen», so schildert es Marianne Meier. «Jeden ständig anlächeln. Das kann sich sonst alles rächen.»
Aktuell nominieren Mitarbeiter zweimal jährlich bis zu acht Angestellte, die sie beurteilen. Wobei Führungskräfte die Auswahl mitbestimmen. Im Prinzip werde jeder angehalten, permanent Aufzeichnungen zum Verhalten der Kollegen anzufertigen, so die Forscher. Den Eindruck der Überwachung verstärke, dass Zalando teilweise in voll verglaste Räume umzog, mit ständig einsehbaren Arbeitsplätzen. «Ich finde Zonar unmöglich», sagt ein Mitarbeiter. «Eigentlich sind es Stasi-Methoden.»
Zalando stellt Kontrolle in Abrede
Zalando erklärt, es gebe ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an Leistungskontrolle. Zonar werde nur im gesetzlich erlaubten Umfang genutzt. Die zitierten Arbeitnehmer seien nicht repräsentativ. Eine interne Umfrage zeige, dass 67 Prozent der Mitarbeiter Zalando als guten Arbeitgeber weiterempfehlen würden. Nur 13 Prozent erwägten einen Firmenwechsel. «Zonar ist kein Instrument der Kontrolle», behauptet Personalchefin Arndt.
«Es soll alles anonym sein. Aber jeder redet darüber: Gib mir ein gutes Feedback, dann gebe ich dir auch eines.»
Man findet auch Beschäftigte, die das System im Prinzip gutheissen. «Ich bekomme Feedback für meine Arbeit. Je besser es ist, desto besser ist meine Beurteilung», erzählt einer am Telefon. «Das ist eine tolle Sache, wenn es die Firma gut lebt.» In der Realität sieht er aber gravierende Probleme: «Man beschützt seinen eigenen Bereich, statt zusammenzuarbeiten. Die Überwachung durch Zonar spielt dabei eine Rolle. Die Leute überlegen vor allem, wie wirke ich, statt an die Sache zu denken.»
Wie andere Beschäftigte führt Marianne Meier weitere Nachteile an: «Es soll alles anonym sein. Aber jeder redet darüber: Gib mir ein gutes Feedback, dann gebe ich dir auch eines. Wir bereden das mal beim Essen.» Sie sprach ein Manager an, der offiziell nicht wissen konnte, welches Feedback Meier abgegeben hatte. Chefs kungelten über ihr Wissen miteinander, um selbst gute Noten zu erhalten. Ein Weg, der normalen Mitarbeitern verwehrt bleibe.
Dient Kontrolle der Lohnbegrenzung?
Die Bewertungen entscheiden über das Gehalt, zusammen mit einem Gremium. Indem jeder Stärken und Schwächen beurteile, lasse sich das Bild zum Nachteil von Angestellten auslegen, so die Forscher: «Zonar ist so angelegt, dass es die vom Management gewünschten Ergebnisse produziert.»
«Bei Zalando sind viele frustriert über die relativ niedrigen Löhne.»
Beschäftigte werden in drei Leistungsgruppen eingeteilt – aktuell heissen die auf Deutsch «herausragend», «stark» und «verbesserungsfähig». Die Forscher behaupten, Zalando halte die oberste Gruppe systematisch klein, in manchen Abteilungen seien es nur zwei bis drei Prozent. «Die höchste Stufe kann man eigentlich nicht erreichen», sagt ein Mitarbeiter.
Zonar schaffe eine Masse, deren Bezahlung stagniere, so Staab und Geschke. «Bei Zalando sind viele frustriert über die relativ niedrigen Löhne.» Zalando widerspricht, von einer Lohnbegrenzung durch Zonar könne überhaupt nicht die Rede sein. «Die durchschnittlichen Gehaltserhöhungen lagen 2018 und 2019 sehr deutlich über dem deutschen Mittel von 3,1 Prozent.»
Angestellte fühlen sich bestraft
Mitarbeiter schildern, wie Zalando das System teilweise durchsetze. «Ich war letztes Jahr Top Performer und hab auch Prämien bekommen», sagt einer in der Studie. Dann habe man ihn angesprochen. «‹Entweder du setzt deinen Kollegen jetzt herab und gibst ihm ein negatives Feedback, sodass wir ihn als Low Performer einstufen können. Oder du bist halt kein Top-Performer mehr.› Es wurde nicht direkt so gesagt, aber die Worte waren ziemlich im Anschluss, als ich gesagt habe: ‹Nein, ich möchte dieses Feedback nicht geben.› Das halte ich für Erpressung.» Zalando erklärt, man könne das nicht nachvollziehen. Mitarbeiter gäben sich untereinander generell eher positives Feedback.
Marianne Meier kritisierte offen chaotische Entscheidungen. Nach ihrem Gefühl machte sie sich so bei mehreren Chefs unbeliebt, die sich dann absprachen. Es half ihr nichts, dass ihr die ganzen Kollegen gute Noten gaben. Sie wurde abgestuft. Zalando erzeuge mit schmerzhaften Sanktionen ein Klima der Angst, so die Forscher.
Zalando ist mit Kontrolle nicht allein
Personalchefin Arndt zieht dagegen ein positives Fazit. «Wir glauben, dass wir den Mitarbeitern mit Zonar sehr entgegenkommen. Wir hören auf die Mitarbeiter und entwickeln Zonar kontinuierlich weiter.» Einiges, was die Forscher in der seit 2017 laufenden Studie beschreiben, wird demnach heute anders gehandhabt.
Wie sehr verbreiten sich Programme wie Zonar und verändern den Arbeitsalltag? Das ist eine Frage, die Millionen Beschäftigte bewegen dürfte. Es gibt Anzeichen, dass solche Programme im Trend liegen. Die «New York Times» enthüllte 2015 Praktiken bei Amazon in den USA. Demnach fühlten sich Führungskräfte durch ein Personalprogramm überwacht und angetrieben. Kollegen sahen sich über das «Anytime Feedback Tool» verraten. Es gab den Vorwurf, es werde Druck auf Kranke und «Minderleister» ausgeübt.
«Zonar bündelt Dynamiken, die die Arbeitswelt prägen», schreiben Staab und Geschke. «Onlinehändler wie Amazon oder Zalando bilden die Vorhut.»
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