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Rassismus bei SRF?
So kam es zum Fall Sascha Ruefer

SRF-Sportreporter Sascha Ruefer hat sein Schweigen gebrochen, weil er der Überzeugung ist, dass er sich wehren muss.
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Es ist Donnerstagabend dieser Woche, als Sascha Ruefer bei der Google-Suche zwei Wörter eingibt: «Ruefer» und «Rassismus». In ein paar Millisekunden landet er bei mehreren Dutzend Texten. 

Der Donnerstag ist ein schwieriger Tag für Ruefer. Am Morgen publiziert «Die Wochenzeitung» (WOZ) einen Text, in dem behauptet wird, Ruefer habe sich «klar rassistisch» über Nationalmannschaftscaptain Granit Xhaka geäussert. Zur Beweisführung zitiert die WOZ einen Satz Ruefers, den er in einem Interview für die Nationalmannschafts-Dokumentation «The Pressure Game» von sich gegeben habe. Der Satz geht so: «Granit Xhaka ist vieles, aber er ist kein Schweizer.» Und dieser Satz hat Schlagkraft. 

Viele Medien nehmen ihn auf und setzen dazu Schlagzeilen mit teilweise vorverurteilenden Zügen. Ruefer hat das Gefühl, das Wort Rassist sei ihm schon auf den Rücken tätowiert worden. 

Vielleicht hätte er das alles noch ertragen und irgendwie ausgestanden. Nach der Google-Suche aber denkt er: Was löst das bei seinem neunjährigen Buben, der gross genug ist, um die Aufregung mitzubekommen, alles aus? 

Der Gedanke macht ihm Sorgen. Ruefer kommt zur Überzeugung, dass er sich jetzt wehren muss. Deshalb greift er zum Telefon und meldet sich bei seinen direkten Vorgesetzten des Schweizer Fernsehens. Es ist ein erster Schritt, der zur Befreiung führen soll. 

Alles begann in einem Café in Doha

Ist Sascha Ruefer ein Rassist? Der Vorwurf geht zurück auf einen Tag im vergangenen Jahr. Es ist der 2. Dezember 2022, als Ruefer in einem Café in Doha auf einem Ledersofa sitzt. Mehrere Fernsehkameras sind auf ihn gerichtet. In wenigen Stunden wird die Schweiz an der WM gegen Serbien antreten. Wie immer seit 2009 wird Ruefer den Match live für SRF kommentieren.

Vorher aber soll der 51-Jährige für «The Pressure Game – Im Herzen der Schweizer Nati» über das Nationalteam reden. Die sechsteilige Dokuserie will eine noch nie gesehene Nähe zu den Schweizer Fussballern zeigen, die Macher um Regisseur Simon Helbling wohnen in Katar bei der Mannschaft, bewegen sich mit der Mannschaft, können ihre Kamera selbst in den Kabinen der WM-Stadien aufstellen. Am Ende hat Helbling 450 Stunden Film, die er auf sechs Episoden und rund 180 Minuten zusammenschneiden muss. 

Auf dem Ledersofa in Doha: Sascha Ruefer während des über 65-minütigen Interviews mit Regisseur Simon Helbling.

Zum Konzept gehören auch Gespräche mit Experten. Ruefer hat sich überlegt, ob er überhaupt mitmachen will. Er hat sich in der Vergangenheit immer wieder pointiert über die Mannschaft geäussert – und hat er sich mehrfach öffentlich über das Verhalten von Granit Xhaka enerviert. Zum Beispiel nach dem Doppeladler-Jubel an der WM 2018 oder nach dem Tattoo-Studio-Besuch während der Corona-Zeit und unmittelbar vor der EM 2021. Kurz: Wenn es emotional wird, trägt Ruefer sein Herz auf der Zunge. Im Guten und im Bösen. Mit seiner Art hat er sich Freunde geschaffen. Und Feinde. Und er weiss auch, was auf ihn zukommt, wenn er sich den Machern der Doku stellt: Fragen zu Granit Xhaka.

Trotzdem sitzt er nun gut ausgeleuchtet in Doha, weil er findet, dass er als Kommentator der Länderspiele eine besondere Rolle hat, die diesen Auftritt von ihm schon fast verlangt. In grossen Spielen hören ihm weit über eine Million Menschen zu. 

Über eine Stunde dauert das Gespräch. Ein paar Wochen später hat Ruefer die Möglichkeit, die Episode vor der Erstausstrahlung anzuschauen. Und er legt sofort Einspruch ein. Ein Satz sei völlig aus dem Zusammenhang gerissen worden, findet er und befürchtet, diese Passage könnte ihm als Rassismus ausgelegt werden. Es geht um den Satz, den die WOZ öffentlich macht. 

Ruefer verlangt von Helbling, den ganzen Kontext seiner Aussage mitzusenden. Oder die Passage zu löschen. Er droht im ersten grossen Ärger gar damit, alle seine Aussagen zurückzuziehen. 

Den Kontext mitzusenden, dagegen wehren sich aus dramaturgischen Gründen der Regisseur und die Zürcher Produktionsfirma Stories AG, die zusammen mit der SRG und dem Schweizer Fussballverband hinter dem Projekt steht. Aber Helbling ist diskussionslos bereit, die Aussage zu löschen, weil er einsieht, einen Fehler gemacht zu haben. So erzählt das zumindest Ruefer. 

Wohnte während der WM bei der Mannschaft im Hotel und trug die Kleider des Nationalteams: Doku-Regisseur Simon Helbling bei einem Medientermin in Doha.

Regisseur Helbling, der in dieser Geschichte eine wesentliche Rolle spielt, wollte sich auf Anfrage dieser Zeitung zu keinem Aspekt des Falls äussern. Das ist in vielerlei Hinsicht bedauerlich. Zum Beispiel auch, weil der eigentlich gelöschte Satz trotzdem an die Öffentlichkeit gelangt. Zuerst berichtet CH Media vor rund zehn Tagen darüber, dass Ruefer eine Passage habe abändern lassen. Dann doppelt die WOZ nach. Und seither fragt sich Ruefer, wo das Leck ist. Er glaubt: «Es war klar die Absicht, mir mit diesen Indiskretionen zu schaden.»

Am Montag, zwei Tage nach Erscheinen dieses Textes, meldete sich Helbling dann mit einer Stellungnahme. Lesen sie hier, was er zu sagen hat.

Ruefer reagiert und lädt Journalisten ins Fernsehstudio ein

Der Sportreporter seinerseits hat geschwiegen bis am späten Donnerstagabend. Bis zum Gedanken, was die vielen Schlagzeilen beim eigenen Sohn auslösen. Danach telefoniert er. Er möchte, dass sich Journalistinnen und Journalisten unter Kenntnissen aller Umstände ein eigenes Bild machen können. In Absprache mit seinen Vorgesetzten von SRF-Sport lädt er verschiedene Medien ein, darunter auch diese Zeitung, sich die Originalaufnahmen in einem Sitzungszimmer im Leutschenbach in voller Länge anzuschauen. 

Eine «Ausnahme» sei das, sagt Susan Schwaller, Chefredaktorin von SRF-Sport, normalerweise würde das Rohmaterial von Dokumentarfilmen nie unbeteiligten Personen gezeigt, das widerspreche den publizistischen Leitlinien. Schwaller ist wie Ruefer und SRF-Sportchef Roland Mägerle dabei, als der Film den Medienvertretern gezeigt wird. 

SRF knüpft die Sichtung auch an Bedingungen: Es gilt eine Sperrfrist bis zum Samstagabend, 20 Uhr. Die Journalisten dürfen von der Vorführung weder Bild- noch Tonaufnahmen machen. Und sie dürfen auch keine Aussagen aus dem 65-minütigen Originalinterview zitieren, die es nicht in die Endversion von «The Pressure Game» schafften. SRF begründet diese Bedingung so: «Bei den Aussagen im Rohmaterial, die nicht im offiziellen Dokfilm verwendet wurden, handelt es sich um nicht autorisiertes Material.»

Bei der Anschauung des Videomaterials wird klar: Der eigentliche Interview-Teil dauert 46 Minuten, das ist den Äusserungen von Fragesteller und Regisseur Helbling und dem Antwortenden Ruefer klar zu entnehmen. Danach allerdings plaudern die beiden weiter – und die Kamera ist noch immer auf Ruefer gerichtet. Diese Aufnahmen sollen allein dazu dienen, von Ruefer noch sogenannte Schnittbilder zu machen, das thematisieren Helbling und Ruefer. Nach rund 55 Minuten kommt es zum zweiten Ende, weil jetzt auch die Schnittbilder aufgenommen sind. Das halten Helbling und Ruefer ebenfalls mündlich fest und Helbling verspricht auch, Ruefers Sätze immer in den Kontext einzubetten.

Gleichwohl setzen die beiden ihr Gespräch weiter fort. Und noch immer zeichnet eine der Kameras auf und noch immer läuft der Ton mit. Nun fällt auch der von der WOZ nicht ganz, aber sinngemäss korrekt zitierte Satz. Nur etwas fehlt im Artikel der WOZ: der Kontext, in dem Ruefer seine Äusserung gemacht hat. Und dieser Kontext sieht so aus: Ruefer bezieht den Satz «Granit Xhaka ist vieles, aber er ist kein Schweizer» eindeutig darauf, wie Xhaka als Führungsfigur funktioniert. Und diese Art ist für Ruefer eben nicht klischeehaft schweizerisch, also eher zurückhaltend, sondern forsch, mit klar formulierten und sehr hohen Zielen. Diese Ansicht führt er im Gespräch zuvor deutlich aus.

Ist das «klar rassistisch», wie die WOZ geschrieben hat? Nein, findet Susan Schwaller und sagt: «Wir stehen hinter Sascha, er hat nichts falsch gemacht und an seiner Rolle als Kommentator der Schweizer Nationalmannschaft wird sich nichts ändern.» 

Sascha Ruefer störte sich daran, als Granit Xhaka während der EM 2021 den Coiffeur einfliegen und sich die Haare färben liess. Aber von den Leaderqualitäten des Schweizer Captains wie hier im gewonnenen Achtelfinal gegen Frankreich ist er beeindruckt.

Ruefer will demnächst unbedingt mit Granit Xhaka reden und ihm die Situation persönlich erläutern, das hat er bisher noch nicht getan. Er wird mit grosser Wahrscheinlichkeit auch gegen die WOZ klagen. Nicht, weil er das Gefühl hat, sich rächen zu müssen. Aber weil er ein Zeichen setzen will. Weil er sich von der WOZ sehr ungerecht behandelt fühlt. Weil er journalistische Werte verletzt sieht.

Ruefer bereut im Nachhinein, dass er fragwürdigen Anschuldigungen nicht mit einer unmissverständlichen Formulierung zuvorgekommen ist. Und er bedauert, dass er nicht schnell genug reagiert und von sich aus den Weg in die Öffentlichkeit gesucht hat, als CH Media ihn zum ersten Mal mit der Löschung des Satzes konfrontierte. Ruefer sagt: «Ich habe die Dynamik, die in dieser Geschichte steckt, unterschätzt.» Das gilt auch für die Spitze von SRF, die zögerlich reagierte und erst auf Druck des eigenen Kommentators bereit war, den Kontext wenigstens einigen Medien gegenüber offenzulegen.

Bei SRF haben der Rechtsdienst, ein unabhängiger Experte und Ruefers Vorgesetzte die Passage eingeschätzt. Sie sind zum Schluss gekommen, dass in der gesamten Aufnahme keine einzige Aussage des Reporters rassistische Züge trägt. Dieses Fazit scheint berechtigt. 

Ruefer äussert sich im offiziellen 46-minütigen Teil des Interviews zwar wiederholt kritisch über Xhakas Wesen, findet für den Captain des Nationalteams aber auch immer wieder grösstes Lob, zum Beispiel, wenn es um dessen Rolle als Teamleader, Kämpfer oder um Xhakas fussballerische Klasse geht. 

Weder in den kritischen noch in den schwärmerischen Momenten aber stellt er einen Zusammenhang her mit der Herkunfts- oder Nationalitätenfrage. Eher das Gegenteil ist der Fall. Ruefer sagt mehrmals, wie froh er sei, dass seit einiger Zeit nicht mehr über die Herkunft der Nationalspieler debattiert werde, diese Diskussion habe er nie verstanden.  

Wieso verwendet die Filmcrew einen nicht offiziellen Teil des Interviews?

Nicht verstehen können Ruefer und dessen Vorgesetzte, wie die Filmemacher dazu gekommen sind, einen Satz aufzunehmen, den Ruefer erst gesagt hat, als für beide Seiten klar war, dass der offizielle Interviewteil zu Ende ist. Ruefer sagt: «Das offizielle Interview war klar beendet, trotzdem liefen die Ton- und Bildaufnahmen weiter. Und dann senden sie ausgerechnet eine Szene aus diesen Momenten.» Auch zu diesem Vorwurf äussert sich Filmemacher Helbling nicht.

In der finalen Version von «The Pressure Game» kommt Ruefer während zusammengezählt knapp zwei Minuten zu Wort. Viele seiner positiven Erzählungen über Xhaka haben es nicht in die Dokumentation geschafft. Ruefer ist enttäuscht darüber, dass sich die Macher auf seine kritischen Äusserungen konzentriert haben. Einerseits. Andererseits kann er das auch nachvollziehen. Es gehe halt bei einem solchen Projekt auch darum, Reibung und Spannung zu erzeugen. Es gehe um Einschaltquote. 

Und wer hilft da besser als Ruefer, der Fussballkommentator, der so sehr polarisiert?