Pro & KontraSollen wir Massentierhaltung verbieten?
Tierschützer verlangen strengere Vorgaben für Schweizer Ställe. Die Debatte über ihre Initiative, die am 25. September zur Abstimmung gelangt, läuft auch in unserer Redaktion.
Ja
Es gibt manchmal Anliegen, bei denen man intuitiv weiss, dass sie richtig sind. Bei denen man auf sein Bauchgefühl hören darf.
Die Volksinitiative gegen Massentierhaltung will verhindern, dass Kühe, Schweine oder Hühner ihr Leben in den grausigen Verhältnissen industrieller Grossbetriebe fristen müssen. Dass auch Nutztiere eine Würde haben, die es zu achten gilt, sollte in unserer aufgeklärten Gesellschaft selbstverständlich sein. Trotzdem wird die Initiative vom Bauernverband erbittert bekämpft. Seine vorgeblich rationalen Einwände fallen allerdings bei genauerer Analyse rasch in sich zusammen.
Beliebt ist etwa die Behauptung, Massentierhaltung existiere in der Schweiz überhaupt nicht. Dass viele tatsächlich glauben, der hiesige Tierschutz sei besonders vorbildlich und bedürfe keiner Verbesserung mehr: Das ist eine Meisterleistung des Agrarmarketings. Aber es widerspiegelt nicht die Realität in den Ställen. Fakt ist, dass neun von zehn Schweizer Masthühnern nie in ihrem Leben das Tageslicht sehen. Dass sich bis zu einem Dutzend Schweine Betonzellen von der Grösse einer Abstellkammer teilen müssen. Mit gutem Grund versuchte die Fleischindustrie während des Abstimmungskampfs, zu verhindern, dass verstörende Bilder aus den Mastbetrieben die Öffentlichkeit erreichen.
Es trifft zu, dass gewisse Geschäftsmodelle bei einem Ja zur Initiative nicht mehr funktionieren würden.
Weiter wird argumentiert, die Initiative verteuere und verknappe die Lebensmittel, was gerade mit Blick auf Krisen zu vermeiden sei. Die Frage, wie in unsicheren Zeiten die Ernährung der Menschen sichergestellt werden kann, ist berechtigt. Nur ist Billigfleisch die falsche Antwort darauf. Fleisch weist in jeder Hinsicht, nicht nur ökologisch, eine schlechte Bilanz auf. Das wussten schon unsere Vorväter und -mütter im Zweiten Weltkrieg: Mit gutem Grund hat man damals den Anbau von Kartoffeln und Gemüse forciert. Graswirtschaft und Nutztierhaltung sind keine effiziente Form der Lebensmittelproduktion.
Schliesslich wird das Schicksal jener Bauernbetriebe beklagt, denen aufgrund der neuen Tierschutzvorgaben das Aus drohte. Es trifft zu, dass gewisse Geschäftsmodelle bei einem Ja zur Initiative nicht mehr funktionieren würden. Auch wenn wohl nur ein einstelliger Prozentsatz aller Agrarbetriebe betroffen wäre: Jedes Schicksal gilt es selbstverständlich ernst zu nehmen. Die vorgesehene Übergangsfrist von 25 Jahren (!) sollte aber wahrlich ausreichen, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen.
Kommt hinzu, dass die Landwirtschaft im Parlament über die stärkste aller Lobbys verfügt. Es ist nicht davon auszugehen, dass unsere Volksvertreter die Initiative mit unbotmässiger Strenge umsetzen werden. Eher dürfte das Gegenteil eintreffen: Man wird Ausnahmen postulieren und Schlupflöcher bohren. Tragisch ist das nicht. Beim Tierschutz ist jeder Fortschritt gegenüber heute zu begrüssen.
Es gibt Anliegen, bei denen man auf sein Bauchgefühl hören darf. Wo wäre das angebrachter, als wenn es ums Essen geht?
Nein
Zur «Wahrung der Würde der Tiere» soll die Nutztierhaltung in der Schweiz mindestens die Bio-Suisse-Anforderungen aus dem Jahr 2018 einhalten. Das ist die Kernforderung der sogenannten Massentierhaltungsinitiative – doch sie ist abzulehnen.
Die Initiantinnen und Initianten gehen mit ihrem Volksbegehren von Frieden und steigendem Wohlstand aus. Die Realität ist leider eine andere. Eine Krise jagt die nächste, der Krieg ist auch in Europa zurück – die Folgen sind vielfältig und auch in der Schweiz noch nicht überwunden.
Sie zeigen die Schwächen unseres Wirtschaftssystems, das sich unvermittelt in einem Wirtschaftskrieg bewähren muss. Gefragt ist heute Versorgungssicherheit, nicht nur im Energiemarkt, sondern eben auch im Lebensmittelmarkt. Die einheimische Produktion von Fleisch und Eiern spielt dabei eine zunehmend wichtige Rolle.
Die Initiative zielt vor diesem Hintergrund in die falsche Richtung, denn sie will die Anzahl von Legehennen, Schweinen und Rindern pro Betrieb noch stärker reduzieren, als dies bereits der Fall ist.
Die Initiative ist abzulehnen, weil sie heutigen und künftigen Krisen nicht entgegenwirkt, sondern diese eher noch verstärkt.
Weltweite Lieferketten sind verletzlich und damit in Krisen unzuverlässig. Sie dienen Autokraten als Mittel für Erpressung. Was bei der Energie Kopfzerbrechen bereitet, kann in der Lebensmittelversorgung besser und rascher gelingen: Versorgung aus inländischer Produktion. Die Initiative verhindert aber einen hohen Versorgungsgrad, weil für gleich viele Tiere mehr Ställe gebaut werden müssen – Investitionen, die sich nicht rechnen.
Nötig für einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad sind Mastbetriebe. Sie müssen in der Schweiz heute schon strenge Auflagen erfüllen. Würde und Wohlergehen der Nutztiere sind bereits geschützt. Bauernhöfe sind keine Zoos. Gefragt sind keine Tierwärter, sondern Landwirtinnen und Landwirte, die Nutztiere verantwortungsbewusst aufziehen.
Beim Schweinefleisch hat die Schweiz heute einen bemerkenswert hohen Selbstversorgungsgrad von 92 Prozent. Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz prognostiziert bei Annahme der Initiative einen Rückgang auf 50 Prozent. Bei Mastpoulets würde dieser Wert von 58 Prozent auf 5 Prozent sinken.
Die Studie geht von der Annahme aus, dass die Tierhalter versuchen werden, den bisherigen Tierbestand zu halten. Dies wäre aber bei Mastpoulets und Legehennen mit hohen zusätzlichen Kosten verbunden. Die Haltung würde sich nur lohnen, wenn sich die Produzentenpreise für Poulets und Eier verdoppeln würden.
Das aber würden Konsumentinnen und Konsumenten kaum akzeptieren. Viele von ihnen würden wohl auf ausländisches Fleisch ausweichen. Zwar verlangt die Initiative dieselben Standards beim Import; ob dies durchgesetzt werden kann, ist allerdings zu bezweifeln. Denn nötig wäre ein Kontrollapparat, der bis zum Schinken auf der Importpizza nachprüft, ob dieser gemäss Schweizer Standard produziert wurde.
Die Initiative ist gut gemeint. Sie ist trotzdem abzulehnen, weil sie heutigen und künftigen Krisen nicht entgegenwirkt, sondern diese eher noch verstärkt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.