Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen
Meinung

Gastbeitrag zum Frauenstreik
So geht Fortschritt

Keine schrillen Ideen: Frauenstreik-Umzug in Zürich.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Wie entsteht Fortschritt? Diese Frage hat mich in den letzten Tagen gleich mehrfach beschäftigt.

Der erste Anlass war der feministische Streik vom 14. Juni. Da haben sich bürgerliche Frauen darüber beklagt, der Anlass sei «mittlerweile sehr schrill und links-ideologisch dominiert». Der Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers» zufolge ist der Anlass «gekapert» worden. Ihr Fazit: «Diese linke Übernahme des Frauenstreiks ist bedauerlich.»

Während 2019 Frauen von Weit-links bis Mitte-rechts den Frauenstreik mittrugen, war die Allianz dieses Mal weniger breit.

Ist das schlimm? Nein. Im Gegenteil. Es ist die Antwort auf meine Frage: So entsteht Fortschritt.

Es ist erst wenige Jahrzehnte her, da wurden Frauen, die sich für die Mutterschaftsversicherung, für Kitas oder Tagesschulen aussprachen, übel angefeindet.

Es braucht eine Spitzengruppe, die vorauseilt. Und es braucht Zeit, damit das Feld aufholen kann.

Aber mit den Jahren bewegten sich die Meinungen. Zuerst schlossen sich nur die mutigsten bürgerlichen Frauen den Forderungen an. Doch bald folgten weitere Frauen (und Männer). Die Ideen, die einst unter «Links-Ideologie»-Verdacht standen, wurden mehrheitsfähig.

So entsteht Fortschritt: Es braucht eine Spitzengruppe, die vorauseilt. Und es braucht Zeit, damit das Feld aufholen kann.

Damit liegt es in der Natur dieses Prozesses, dass es Phasen gibt, in denen die Allianzen breit sind und der Konsens dominiert. Und dass es dann wiederum Zeiten gibt, in denen die Ansichten weiter auseinanderliegen. Es braucht beide Phasen. Beide haben im langen Prozess des Fortschritts ihre wichtigen Rollen.

Fortschrittlichkeit verlangt Beweglichkeit

Denn Fortschrittlichkeit ist immer vorläufig. Sie hat ein Verfalldatum, wenn sie nicht ständig neu erstritten wird. Wer in den 1990er-Jahren für die Cannabis-Entkriminalisierung einstand, durfte sich fortschrittlich fühlen. Wer sich aufgrund dieser Position noch heute für fortschrittlich hält, täuscht sich dagegen. Natürlich ist diese Position weiterhin richtig, doch fortschrittlich ist sie nicht mehr. Sie ist Mainstream. 

Wenn der Fortschritt weitergehen soll, braucht es immer wieder neue Efforts. Fortschrittlichkeit verlangt Beweglichkeit.

Das führt mich einerseits zum Streik zurück. Die linken Frauen, die mit ihren angeblich so schrillen Ideen den Streik gekapert haben sollen: Sie sind nichts weniger als ein Motor des Fortschritts. Sie sind die legitimen Nachfolgerinnen jener Frauen, die vor Jahrzehnten für Kitas und Tagesschulen gekämpft hatten.

Andererseits lässt mich die Frage nach dem Wie und Wo des Fortschritts an den letzten Sonntag denken: ans klare Ja zum Klimaschutzgesetz.

Gut möglich, dass wir aktuell in der Klimapolitik erleben, was 2019 den Frauenstreik ausgezeichnet hatte: eine Fortschrittsallianz, die so breit und kräftig geworden ist, dass sie Wirkung zu entfalten vermag. Damit sind Massnahmen mehrheitsfähig geworden, die vor zehn Jahren noch gescheitert wären – weil zu «schrill» und zu «links-ideologisch»! 

Genauso wie in der Gleichstellungspolitik wird es auch in der Klimapolitik wieder Momente geben, wo das Feld und die Spitzengruppe weiter auseinanderliegen und damit die Allianz und das Einvernehmen brüchiger sein werden. Doch auch dann wird gelten, was heute zum feministischen Streik gilt: Mensch, ärgere dich nicht! Im Gegenteil: Freuen wir uns! Offenbar ist der Fortschrittsprozess in Bewegung.

Jacqueline Fehr ist Zürcher Regierungsrätin.