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Meinung

Leitartikel zum Frauenstreik
Dieser Streik wurde gekapert

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Wir sind viele – und gemeinsam können wir viel erreichen. 

Dieses Gefühl der Verbundenheit und Solidarität, der Zuversicht und Kraft auch, beschreiben viele Frauen, wenn sie vom 14. Juni 2019 sprechen. Eine halbe Million Frauen gingen damals in der Schweiz auf die Strasse. Sie demonstrierten für Lohngleichheit, eine angemessene politische Repräsentation oder die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. 

Das Ereignis war in Ausmass und Bedeutung historisch. Erstmals seit 1991 verliehen Frauen ihren Forderungen in grosser Zahl Ausdruck. Der Streik brachte – mit Ausnahme der Rechtsbürgerlichen – Vertreterinnen fast aller politischen Lager zusammen. Berufsfrauen wie Lehrerinnen, Pflegerinnen oder Landwirtinnen, aber auch Schülerinnen und Rentnerinnen setzten sich gemeinsam für eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen ein. 

Dieses Mal sind die Vorzeichen anders.

Der Frauenstreik fand vor vier Jahren auf dem Höhepunkt der internationalen #MeToo-Bewegung statt. Es herrschte ein Zeitgeist, in dem sich die Frauen nachhaltig Gehör verschaffen konnten.

Vier Jahre später möchten viele Frauen den Erfolg wiederholen. Doch die Vorzeichen sind anders: Den Organisatorinnen fehlt diesmal die politische Breite von 2019. Das manifestiert sich bereits im Namen der Veranstaltung. Sie heisst nicht mehr «Frauenstreik», sondern «feministischer Streik», weil «alle feministischen Menschen» angesprochen werden sollen, also auch wohlgesinnte Männer, intergeschlechtliche, nicht binäre oder Transpersonen sowie weitere diskriminierte Gruppen.

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Diese Rhetorik hat natürlich politische Implikationen, und mit dem Verschwinden der Frauen aus dem Titel des Aktionstags sowie der Verschiebung des inhaltlichen Fokus können sich gerade bürgerliche Frauen nicht mehr identifizieren. Ersonnen wurde der Name von regionalen Streikkollektiven. Sie haben das Streikprogramm weitgehend unter Ausschluss etablierter und überparteilicher Organisationen wie des grossen Frauendachverbands Alliance F zusammengestellt. 

Die Streikparolen lesen sich wie das Partei­programm der SP oder der Grünen.

Die Streikparolen lesen sich denn auch wie das Parteiprogramm der SP oder der Grünen. Gefordert werden Mindestlöhne, Arbeitszeitverkürzungen, höhere Renten, eine einjährige Elternzeit und nicht weniger als die Veränderung des «patriarchalen und kapitalistischen Systems». Mitorganisiert haben den Streik auch zahlreiche Gewerkschaften – die Parolen tragen unverkennbar ihre Handschrift.

Diese linke Übernahme des Frauenstreiks ist bedauerlich. Mit dem wilden Potpourri aus etatistisch-gewerkschaftlichen Forderungen und dem Kampf für sämtliche Benachteiligten dieser Welt nimmt sich die Bewegung die Kraft, die in ihrer politischen Breite lag. 

Diese Frauen bewegten etwas im Bundeshaus. 

Denn welche Wirkung ein breiter Konsens unter Frauen entfalten kann, zeigte sich nach dem letzten Streik. Sogenannte Frauenanliegen, die meist nicht weniger als gesamtgesellschaftliche Anliegen sind, können seither nicht mehr weggelächelt werden – weder in der Arbeitswelt noch im öffentlichen Diskurs oder in der Politik. Eine Folge war, dass im Herbst 2019 – auch dank der Mobilisierungskampagne «Helvetia ruft» – bei den nationalen Wahlen mehr Frauen denn je ins Parlament gewählt wurden. Ihr Anteil stieg im Nationalrat sprunghaft von 32 auf 42 Prozent, im Ständerat von 15 auf 26 Prozent. 

Und diese Frauen bewegten etwas im Bundeshaus. Sie spielten etwa eine entscheidende Rolle bei der Revision des Sexualstrafrechts, in dem neu die Vergewaltigung umfassender definiert wird. Sie erhöhten den Druck, um die Kita-Finanzierung für die Eltern auszubauen. Sie setzten die Individualbesteuerung, die Zweiteinkommen steuerlich attraktiver macht, wieder auf die politische Agenda. Sie beharrten auf tieferen Eintrittsschwellen für das Sparen in der zweiten Säule der Altersvorsorge, die bislang gering verdienende Frauen mit kleinen Pensen benachteiligt. Die zahlreichen Frauen im Parlament trugen auch dazu bei, die Ehe für alle und den zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub mehrheitsfähig zu machen. 

Sie lancierten zudem fraktionsübergreifende Vorstösse wie eine 24-Stunden-Telefonberatung für gewaltbetroffene Frauen. Und sie verhalfen Petitionen aus der Frauensession, zum Beispiel zur Förderung der Frauenmedizin-Forschung, zum Durchbruch. Das zeigt: Frauen zu wählen, kann eine grosse Wirkung auf reale gesellschaftliche Veränderungen haben. 

Wer meint, Frauen müssten sich jederzeit in allem einig sein, unterliegt einem fundamentalen Irrtum.

Jüngst erfuhr die breite Frauenallianz allerdings Brüche. Die Abstimmung zur Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre im vergangenen Herbst führte zum anhaltenden Zerwürfnis. Linke Vertreterinnen warfen ihren bürgerlichen Kolleginnen vor, die Sache der Frauen verraten zu haben, und empfahlen sie sogar offen zur Abwahl. Dieser Frauenstreit wiederholt sich nun bei den Details der Reform der beruflichen Vorsorge. 

Doch wer meint, Frauen müssten sich jederzeit in allem einig sein, unterliegt einem fundamentalen Irrtum. Frauen sind keine homogene Masse. Sie denken und handeln (politisch) genauso divers wie Männer. Will die Frauenbewegung weiterhin politischen Einfluss haben, muss sie diese Breite haben. Gefordert sind vorab ihre linken Vertreterinnen, die Mobilisierung auf der Strasse nicht als Wahlkampfvehikel für das eigene Lager zu missbrauchen. Und stattdessen die Breite auch in der politischen Arbeit ohne Groll und Argwohn zuzulassen. Sie müssen akzeptieren, dass Frauen in ihrer Vielfalt gemeinsame Ziele teilen können, aber dafür unterschiedliche Wege gehen wollen.