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Skistar Lucas Pinheiro Braathen
Der schrillste Skifahrer ist zurück und sagt: «Ich werde beleidigt und attackiert»

Skiracer Lucas Pinheiro Braathen of Brazil speaks during a press conference at the FIS Alpine Skiing World Cup season opener, in Soelden, Austria, Thursday, October 24, 2024. (KEYSTONE/Jean-Christophe Bott)
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Dieser Mann bringt sogar Bergbahnen zum Laufen. Eigentlich würden die Gondeln hoch zum Gaislachkogel auf über 3000 Metern an diesem Donnerstagnachmittag ja stillstehen, weil noch nicht und nicht mehr Saison ist in Sölden. Doch an diesem Tag werden ein paar Dutzend Journalisten und Journalistinnen hochgebracht zu dem Ort, an dem vor einem Jahrzehnt für den James-Bond-Film «Spectre» einige Szenen gedreht wurden.

Nun erwartet die Besucher ein Spektakel der anderen Art. Lucas Braathen hat geladen, Lucas Pinheiro Braathen, wie er mit vollem Namen heisst, Lucas Pinheiro, wie er eigentlich nur noch genannt werden will. Vor einem Jahr löste der junge Norweger hier im Ötztal ein Beben aus in der Skiwelt. «I’m out», drei Worte, sie reichten dafür aus. Er beendete seine Karriere, mit 23, als bester Slalomfahrer der Gegenwart.

Bis zu diesem Nachmittag auf dem Gaislachkogel hat er die Rolle rückwärts vollzogen, ist er der grosse Rückkehrer im Ski-Weltcup – neben Marcel Hirscher. Er hat sich aus dem Konstrukt des norwegischen Verbandes gelöst, in dem sich der Paradiesvogel je länger, desto mehr eingeengt fühlte. Er habe sich nicht so entfalten, seine Persönlichkeit nicht so ausleben können, wie er sich das gewünscht habe, das nennt er als Grund für den Abschied. Es ist nur die eine Seite. Die andere ist die finanzielle. Wie viele Norweger vor ihm hat auch er sich mit dem Skiforbund gestritten, weil dieser keine athleteneigenen Sponsoren zulässt.

Caipirinha zum Apéro

Braathens Partner Red Bull durfte nicht auf den Helm und die Mützen. Das sieht nun ganz anders aus. Das Logo des Energydrink-Herstellers ist allgegenwärtig beim Termin ob Sölden, auch auf der weissen Mütze von Pinheiro Braathen. Ein Nationenwechsel war dafür vonnöten, von Norwegen zu Brasilien, dem Heimatland seiner Mutter.

Über die Gründe will er an diesem Donnerstag reden. Am Eingang des Bergrestaurants hängt ein Bild, darauf zu sehen klein Lucas mit brasilianischem Fussballshirt. Zum Apéro gibt es Caipirinha und Pão de Queijo, brasilianische Käsebällchen. «Sein Lieblingsessen», versichert der Kellner.

Mindestens ein halber Brasilianer: Schon als Bub konnte sich Lucas Pinheiro fürs Heimatland seiner Mutter begeistern – er posiert im Shirt der «Seleção».

Später sitzt der Athlet vor einer Werbewand, einige Partner sind aufgeführt, Sölden unter anderem, in der Mitte steht: Team Pinheiro. Es ist eines der offensichtlichen Zeichen für seinen Neustart, möglich gemacht durch Sponsoren und Partner, die das gesamte Budget der Privatmannschaft stemmen, wie Björn Braathen sagt, sein Vater, der auch sein Manager ist. Er ist eine von neun Personen, die sein Sohn um sich geschart hat. Dazu gehören drei Skitrainer, ein Servicemann, ein Konditionstrainer, eine Physiotherapeutin, eine Marketingspezialistin sowie ein eigener Foto- und Videojournalist.

Es ist das wohl grösste Privatteam, das je durch den Skizirkus tingelte. Das Budget liegt bei über einer Million Franken. Der Druck kommt also nicht nur von «den über 200 Millionen Brasilianern, die ich nun vertrete», wie der 24-Jährige mit einem breiten Lachen sagt. Es werden Erfolge gefordert, er fordert sie selbst von sich. «Ich werde nicht aufhören, bis ich die brasilianische Flagge auf die höchste Podeststufe gebracht habe.»

Es ist sein grosser Traum in seinem neuen Leben als Athlet. In diesem, so sagt er, könne er endlich sein, wer er wolle. Lackierte Fingernägel und eine eigene Modekollektion inklusive. Auch gemodelt hat er im Sommer – «und dabei gemerkt, dass ich besser wieder Ski fahre», sagt er und lacht laut. Pinheiro Braathen ist ein Hingucker, das will er auch sein.

Irgendwann schaut er in die Runde und sagt: «Sie sind naiv, wenn Sie glauben, dass irgendwen interessiert, wie wir durch die blauen und roten Tore fahren. Ich bin ein Showman, es geht um Entertainment, um Geschichten, darum sind wir alle hier.» Er wolle Menschen inspirieren, Junge animieren, seinem Beispiel zu folgen, er wünscht sich einen modernen Skisport, in dem es Platz hat für Athleten und Athletinnen aller Couleur. Und: «Mehr Rock ’n’ Roll!»

Er lebt das Anderssein vor

18 Jahre lang habe er leben müssen, um zu merken, dass er kein Typ für jedermann sei, sagt er. «Ich kann nicht von jedem gemocht werden, das habe ich realisiert. Ich habe mich selbst verloren bei dem Versuch, jemand anderes zu sein.»

Es ist eine Rückkehr mit grossem Hallo für die vielleicht schillerndste Figur im Traditionssport, mit Sicherheit aber die schrillste. Entsprechend gross ist jeweils der Andrang auf ihn. So war das auch vor zwei Wochen bei einem Termin mit seinem Ski-Ausrüster. Dennoch nahm er sich Zeit für ein persönliches Gespräch.

Lucas Pinheiro Braathen, warum kommen Sie zurück?

Ich mache das, was mich glücklich macht. Und zwar nur noch das. Ich liebe das Skifahren, aber gleichzeitig will ich mich ausdrücken können und zeigen, wer ich wirklich bin – ohne Kompromisse. Ich tue Dinge, die nicht allen gefallen, aber das ist mir egal. Vielleicht kann ich dazu beitragen, dass im Skisport künftig Jugendliche mit verschiedenen Hautfarben und Sexualitäten vertreten sind. Dass sie denken: «Lucas Pinheiro Braathen lebt das Anderssein vor, also können wir das auch.»

Wie wichtig ist Mode für Sie?

Es ist mein Ventil, mich auszudrücken. Ich kann damit provozieren und Leute herausfordern. Man kann ein grossartiger Sportler sein, aber gleichzeitig auch eine einzigartige Persönlichkeit haben. Ich will Mode und Sport verbinden. Das sind zwei Welten: In der einen geht es um Ergebnisse, alles ist sehr streng. In der anderen geht es um grenzenlose Fantasie.

Woher kommt Ihr Faible für Mode?

Von meinem multikulturellen Background. Mein Vater ist Norweger, meine Mutter Brasilianerin – es sind zwei völlig unterschiedliche Kulturen, auch was Kleidung betrifft und Wege, sich auszudrücken. Das habe ich verinnerlicht. Zudem reise ich fürs Leben gerne und bekomme überall Inputs. Kleidung löst beim Gegenüber die ersten Eindrücke aus, damit kann man ein Statement abgeben.

Einer für den Laufsteg: Mehrmals schon ist Lucas Pinheiro Braathen an einer Fashion Week aufgetreten.

Erhalten Sie deswegen negative Reaktionen?

In den sozialen Medien werde ich beleidigt und attackiert. Ich werde von Tag zu Tag stärker und sehe meistens darüber hinweg. Aber es hinterlässt Spuren – und ich würde lügen, wenn ich sage, dass mich das nie trifft. Es ist offenbar der Preis, den ich dafür bezahle, wenn ich zeige, wer ich wirklich bin.

Wie er wirklich ist, wird auch an diesem Donnerstagnachmittag hoch über Sölden klar. Kreativ, unterhaltsam, ein Freigeist. Daher diese Frage:

Ist der eher konservative Skisport mit all seinen Regeln und Traditionen überhaupt der richtige Sport für Sie als Freigeist?

Es ist die beste Frage seit langem. Man könnte meinen, er sei es nicht. Doch das ist der eigentliche Grund dafür, dass er es eben genau ist. Der Skisport hat unglaublich viel Potenzial für Verbesserungen und Veränderungen. Das ist die Bühne, auf der ich mich verwirklichen kann. Ich liebe es, dass das Skifahren so traditionsverbunden ist. Ich liebe zum Beispiel die Kuhglocken in Adelboden – das ist Teil der Schönheit unseres Sports. Ich fühle mich nicht allein, aber meine Rolle im Skisport ist eine andere als die meiner Konkurrenten, ich habe eine andere Mission.

Im Sommer war ein Fernsehteam aus Deutschland an der Copacabana und fragte die Einheimischen, wer Lucas Pinheiro Braathen sei. «Die Antworten waren lustig», sagt der Ausnahmeathlet, «einer sagte: ‹Ah, das ist doch der einzige Brasilianer, der weiss, was Schnee ist.›»

Ständig werde er in der Heimat seiner Mutter gefragt, warum er nicht Fussballer geworden sei. «An einer Pressekonferenz musste ich den Reportern erklären, dass man als Skifahrer mit Tempi bis 140 km/h zwischen Plastikstangen und auf Schnee einen Hang hinunterfährt. Aber die Brasilianer sind so sportverrückt, da spielt es keine Rolle, was der Athlet macht. Es gibt die Idee, dass mich TV-Teams begleiten werden. Die Leute werden es schauen, auch wenn sie absolut keine Ahnung davon haben.»

Und er will sie nicht enttäuschen. Er ist nicht zurückgekehrt, um nur mitzufahren.

Lucas Braathen, was wollen Sie erreichen?

Ich will nicht einfach dabei sein. Ich bin zurückgekommen, um der Beste zu sein! Das sage ich nicht einfach so, das ist meine Überzeugung. Es ist ein Nachteil, habe ich keine Teamkollegen, aber dafür bin ich flexibel und kann mit anderen Nationen Kooperationen eingehen.

Und wie muss man sich den brasilianischen Skiverband vorstellen?

Er hat seine Stärken eher beim Après-Ski. (lacht) Der Fokus liegt auf Caipirinhas.

From left, second placed Switzerland's Marco Odermatt, and second placed ex-aequo Norway's Lucas Braathen, celebrate after an alpine ski, men's World Cup giant slalom race, in Kranjska Gora, Slovenia, Saturday, March 12, 2022. (AP Photo/Gabriele Facciotti)